Person tippt auf ihr Handy mit der Hand auf einen Zettel, der auf einem Päckchen liegt. Neben ihr steht ein Computer. Im Hintergrund ist unscharf eine Wohnung zu erkennen.

Immer mehr Produktrückrufe

Überschwemmen gefährliche Produkte den Markt?

Stand
Autor/in
Melanie Jost / WDR Markt, 18.09.2024
Onlinefassung
Emma Challouf

Brandgefahr, Explosionsgefahr, Gesundheitsgefahr: Solche Rückruf-Schlagzeilen wirken bedrohlich und machen Angst vor Konsum bis zur Todesfolge. Und: Die Rückrufe werden häufiger.

Ein Blick in die Statistiken zeigt: Im vergangenen Jahr wurden mehr Produkte zurückgerufen als je zuvor - 384 Rückrufaktionen waren es insgesamt. Das ist ein neuer Höchststand. Zum Vergleich: vor zehn Jahren waren es noch 144 Rückrufaktionen. Hat die Zahl der gefährlichen Produkte auf dem Markt zugenommen - oder fällt durch bessere Kontrolle einfach mehr auf?

Seit 2010 hat die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im Produktsicherheitsportal www.rueckrufe.de über 2.300 Rückrufe von unsicheren Produkten publziert. Die Grafik zeigt eine zeitliche Entwicklung. Von 77 Rückrufen im Jahr 2010 bis zu 394 Rückrufen 2023.
Publizierte Rückrufe auf www.rueckrufe.de

Gesetze, Vorschriften und hohe Standards

Auf dem Papier sind die Standards für Produktsicherheit sehr hoch - besonders in Deutschland ist die Herstellung vieler Produkte durch mehrfache Überprüfung gesichert. Wegen des gemeinsamen Binnenmarktes kommt dabei auch der Europäischen Union eine große Rolle zu. Im Dezember 2024 tritt deren neue Produktsicherheitsverordnung in Kraft. Theoretisch sollten also alle Produkte, die auf den europäischen Binnenmarkt kommen, sicher sein. Doch halten sich die Händler in der Praxis an die Vorschriften - und wer kontrolliert das alles?

Schwarze Schafe verstoßen gegen die Regeln

Kontrolleure, die täglich den Markt zu überwachen versuchen, zeichnen ein ernüchterndes Bild. "Es ist schwierig!“, sagt Peter Imbusch, der für die Abteilung Produktsicherheit der Bezirksregierung Köln um Sicherheit bemüht ist. Am Ende sind es in Deutschland oft kommunale Stellen, die für die Überwachung zuständig sind.

Zunächst kommt die Ware natürlich an den Schnittstellen wie beispielweise Häfen ins Land. "Stellen sie sich vor, in Hamburg kommt ein Schiff an und da sind 15.000 Container drauf", sagt Peter Imbusch. "Man kann nur stichprobenartige Kontrollen machen."

Dafür und für die Kontrolle an den Flughäfen ist der Zoll zuständig. Doch Branchenexperten beklagen, dass der Zoll mit der Kontrolle völlig überlastet sei. Man müsse sich davon freisprechen, dass jedes einzelne Produkt, das nach Europa kommt, geprüft sei, sagt Imbusch: "Natürlich muss es sicher sein. Aber es gibt auch immer schwarze Schafe, wo es nicht so ist. Und deswegen muss man auch aufpassen: wo kaufe ich ein."

Tübingen

Marktüberwachung deckt 2.000 Verstöße auf Viele Produkte in Baden-Württemberg mangelhaft

Die Marktüberwachung für ganz Baden-Württemberg am Regierungspräsidium Tübingen hat bei Prüfungen einige Mängel festgestellt. Im vergangenen Jahr wurden 2.000 Verstöße gezählt.

Die Rolle der Onlinemarktplätze

Immer neue Onlinemarktplätze schießen wie Pilze aus dem Boden und überschwemmen den Markt regelrecht mit sehr günstigen Angeboten. Neben Platzhirschen wie Amazon und Otto erfreuen sich neue Player wie Temu, Alibaba und Shein wachsender Beliebtheit. Die Portale sind jedoch umstritten. Handelsvertreter, Politiker und Verbraucherschützer kritisieren unter anderem Produktqualität, mangelnde Kontrollen und unfaire Wettbewerbsbedingungen.

Marktüberwachung wie zu Tante Emmas Zeiten?

Jeder Mitgliedsstaat der EU muss eine Marktüberwachungsstrategie entwickeln. Deutschlands föderale Strukturen führen zu komplexen, verwirrenden Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Auf der Bundesebene ist beispielsweise die Bundesnetzagentur zuständig, wenn Produkte Funk enthalten - wie Telefone, Saugroboter oder smartes Kinderspielzeug. Andere Sparten decken die Länder ab. Hier wird die Zuständigkeit bis in die kommunale Verwaltung hinunterdelegiert: In den 16 Bundesländern sind jeweils völlig unterschiedliche Stellen dafür zuständig. Von Landesämter über Bezirksregierungen bis zur Gewerbeaufsicht. Manchmal überlappen die Zuständigkeiten. Denn die Ansprechpartner vor Ort sollen auch reagieren, wenn sich Bürger melden oder Medien über Brände und Unfälle berichten, hinter denen gefährliche Produkte stecken könnten.

"Die Marktüberwachung in Deutschland ist am Ende kommunal organisiert. Sie orientiert sich rund um den Kirchturm. Ich sage immer: Sie ist organisiert wie zu Tante Emmas Zeiten", sagt der stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Handelsverbandes, Stephan Tromp. Man konzentriere sich nach wie vor auf Kontrollen vor Ort im stationären Handel und vernachlässige den Internethandel, auch weil die Kapazitäten nicht vorhanden seien. "Wir fordern eine gravierende Änderung: dass mehr Kontrolle auf den Internethandel gelegt wird und dass Deutschland seine Hausaufgaben macht und sich zentraler organisiert."

Verbraucher als Informant?

Als Knotenpunkt steht im Zentrum der deutschen Marktüberwachung die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, kurz BAuA.  Ihre Aufgabe könne man als "intelligenten Postkasten" zusammenfassen, sagt Tobias Bleyer, Leiter der Fachgruppe Grundsatzfragen Produktsicherheit bei der BAuA: "Wir sind Drehscheibe für Informationen zwischen den Marktüberwachungsbehörden in Deutschland und der europäischen Kommission und den europäischen Mitgliedsstaaten."

Die BAuA pflegt unter der Adresse "rueckrufe.de" eine eigene Datenbank zu gefährlichen Produkten, in der sie Meldungen aus ganz Europa auf Deutsch veröffentlicht. (Hier geht es zur BAuA - Datenbank "Gefährliche Produkte in Deutschland")

Doch wie schafft es ein gefährliches Produkt auf diese Liste? "Die Marktüberwachungsbehörden sind nicht in der Lage, den gesamten Markt tagtäglich zu scannen und zu überwachen. Der Mark ist gewachsen und so ist es auch wichtig, diese Information von den Verbrauchern direkt zu bekommen," sagt Bleyer. Denn die hätten exklusive Informationen, wenn bei einem Produkt Probleme auftreten. Weil es für Verbraucher im Dschungel der Zuständigkeiten sehr schwer sei herauszufinden, welcher Behörde sie Vorfälle melden können, könne man sich im Zweifel auch direkt an die BAuA wenden.

Und bald solle es einfacher werden: Mit der neuen europäischen Produktsicherheitsverordnung soll es ein einheitliches Portal für ganz Europa geben, über das Verbraucher unkompliziert gefährliche Produkte melden können.  

Rückrufe erreichen Verbraucher nicht: Ein Rentner warnt schneller als die Behörden

Bis es wirklich zu einem Rückruf kommt, kann es sich hinziehen. Oft fallen Probleme zuerst dem Hersteller auf, bei Lebensmitteln zum Beispiel im Rahmen eigener Laboruntersuchungen. Oder ein Kunde meldet sich beim Hersteller mit der Beschwerde über einen brennenden Föhn, einen losen Riemen am Fahrradhelm oder ein Plastikstück in der Raviolidose. Dann startet eine interne Prüfung, aber es sollten auch schnell die Behörden einbezogen werden. Für betroffene Firmen stehen aber im Falle eines Rückrufs der Ruf und viel Geld auf dem Spiel. Deshalb hakt es manchmal. Besonders schwierig wird es, wenn Händler aus Drittstaaten wie China im Spiel sind, berichten Kontrolleure.  

So kommt es, dass der Privatmann Gert Kretschmann oft schneller warnt als die Behörden. Er hat schon vor 17 Jahren begonnen, sein eigenes Internetwarnportal „produktrueckrufe.info“ aufzubauen:

Mehrere Stunden pro Tag ackert er sich durch Internetseiten und stöbert Rückrufmeldungen auf, die von Firmen mitunter regelrecht versteckt veröffentlicht würden.

Rückrufe-App lebensmittelwarnung.de

Zumindest für den Bereich Lebensmittel hat sich in punkto Rückrufe etwas getan: Ganz zeitgemäß gibt es eine App, mit der man die Warnungen direkt aufs Handy bekommt: Auf lebensmittelwarnung.de wird vor Schimmel in Saftschorle gewarnt, vor Salmonellen in der Salami oder vor Metallspänen in Käsecrackern.

Die Liste der Produkte, vor denen die App warnt, enthält vor allem Lebensmittel, aber auch Kosmetik, Bedarfsgegenstände, Baby- und Kinderprodukte sowie Mittel zum Tätowieren - eine willkürlich erscheinende Zusammenstellung. Auf der Internetseite heißt es, dass „öffentliche Meldungen und Informationen im Sinne des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches“ veröffentlicht werden.

In den Non-Food-Kategorien, zum Beispiel bei den Babyprodukten, erschien die Liste in unserer Recherche lückenhaft. Zum Beispiel tauchte dort ein Beißring nicht auf, der in anderen Datenbanken als Rückruf gelistet war.  Hinter der App steht das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. (lebensmittelwarnung.de - Meldungen)

Elektrogeräte: keine Warnung per App

Und was ist mit allen anderen Produkten, wie Elektrogeräten? Die sind nicht enthalten, weil das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) dafür nicht zuständig ist. Warnungen findet man stattdessen in der Datenbank für gefährliche Produkte der BAuA.

Rein technisch könne man das auch als App anbieten, erzählt man uns dort. Warum tut man es nicht? "Wir sind in der Diskussion," sagt Tobias Bleyer, Leiter der Fachgruppe Grundsatzfragen.

Vorsicht beim Einkauf

Nur weil ein Hersteller aus einem Drittstaat wie China kommt, muss das Produkt nicht schlecht sein. Trotzdem ist bei einem Sitz des Verkäufers im europäischen Binnenmarkt das Durchsetzen von Rechtsansprüchen eher gewährleistet.

Vor dem Kauf sollte man ein bisschen Rechercheaufwand nicht scheuen. Die Bewertung anderer Kunden zu durchstöbern, kann hilfreich sein. Am besten sucht man auch außerhalb der Verkaufsplattform und gibt in eine Suchmaschine Schlagwörter wie "Problem" oder "Unfall" in Kombination mit dem Produkt ein.

Bei Ware, die man aus zweiter Hand kauft, sollte man immer einen Blick auf das Portal "rueckrufe.de" der BAuA haben. Denn in Kleinanzeigen wird mitunter noch weiterverkauft, was im stationären Handel und im Onlineshop schon aus dem Verkehr gezogen wurde.

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Melanie Jost / WDR Markt, 18.09.2024
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