Zugegeben, die Art und Weise, wie das Publikum und vor allem die Mitglieder des Chores in der Kirche verteilt sind, ist gewöhnungsbedürftig. Nicht einmal meine Frau darf direkt neben mir sitzen. Nur jede zweite Kirchenbank ist besetzt – und das mit nur zwei Personen. Noch größer sind die Abstände zwischen den Sängerinnen und Sängern. Wegen der Aerosole müssen sie weit weg vom Publikum bleiben, außerdem ist das Ensemble in zwei Teams geteilt, die abwechselnd auftreten. Und doch kommt in diesem sakralen Ambiente eine enorme Intensität und Intimität auf, denn Marcus Creed hat Motetten und Cantaten aus der Zeit des Frühbarock ausgewählt. Herrliche Musik zum Thema Endlichkeit des Daseins und über den Wert des Lebens. Stücke, die vor 500 Jahren entstanden sind, aber heute in Zeiten der Pandemie von ungebrochener Aktualität sind.
So packte mich diese Musik von elegischer Schönheit. Und nach einer Stunde war da bei mir vor allem ein Gefühl großer Dankbarkeit. Dankbarkeit, dass wir solche emotionalen Momente wieder gemeinsam und ohne digitale Vermittlung erleben dürfen. Dankbarkeit, dass viele Mitarbeitende dieses Live-Event durch beharrliche Arbeit möglich gemacht haben. Und vor allem: Dankbarkeit gegenüber Marcus Creed. 18 Jahre lang hat er als Chefdirigent das SWR Vokalensemble geleitet. Er hat den Chor zu internationaler Spitzenklasse geführt und ein Ensemble mit einem außerordentlich breiten Repertoire geformt. Vom Frühbarock bis zur neuen Musik hat das Vokalensemble alles drauf, und das in Perfektion.
Marcus Creed kam zum SWR zur selben Zeit, als ich den SWR in Richtung Tagesschau verließ. Schade, dass wir beide uns erst jetzt zu seinem Abschied begegnet sind. Ein großartiger Dirigent, der mit dem Ensemble über seine Hände spricht. Aus Dankbarkeit und Hochachtung ernannten ihn gestern die Ensemble-Mitglieder zum Ehrendirigenten. Der gebürtige Brite ließ die Ehrungen mit dem ihm eigenen Understatement über sich ergehen. Als Gastdirigent wird er sicher immer mal wieder mit „seinem“ Vokalensemble zusammenarbeiten. Der SWR kann stolz sein auf einen wie Marcus Creed. Und stolz sein auf dieses Vokalensemble.
Ihr
Kai Gniffke