Die Beziehung zwischen Italien und Libyen ist traditionell eng. Auch im libyschen Bürgerkrieg, bei dem immer mehr Großmächte mitmischen, versucht Italien eine besondere Vermittlerrolle einzunehmen. Das hat mit der geografischen Nähe der beiden Länder zu tun – nur knapp 290 Kilometer Mittelmeer trennen sie an der engsten Stelle – aber auch mit Italiens Kolonialgeschichte.
Italien: Niederlage 1896 in Abessinien fest im kollektiven Gedächtnis verankert
Der Historiker Nicola Labanca von der Universität Siena betrachtet die italienische Eroberung Libyens als einen Ausgleich für eine Niederlage: 1896 hatte Italien die Schlacht von Adua gegen das Kaiserreich Abessinien, das heutige Äthiopien, verloren. In Italien brannte sich die Schmach dieser Niederlage ins kollektive Gedächtnis.
Italien nutzt die Schwäche des Osmanischen Reichs zur Eroberung Libyens
Nicola Labanca meint: „Nach der Niederlage von Adua strebte Italien weiterhin nach Eroberungen am Mittelmeer. Anders als die Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien zeigte das Osmanische Reich Anzeichen von Schwäche – darin sah Italien eine Chance.“ Ideologisch wurde der italienische Expansionsdrang in die Tradition des Römischen Reichs, des Imperium Romanum, gerückt, dem auch Libyen angehört hatte.
Im Oktober 1911 zogen italienische Einheiten in Tripolis ein. Die osmanischen Truppen flohen nach wenigen Feuergefechten ins Hinterland und begannen, libysche Widerstandskämpfer auszubilden. Deren Gegenwehr wurde mit Massakern vergolten.
In Tripolis starben mehrere tausend Menschen. Eine erschütternde Zahl angesichts der Tatsache, dass in der Stadt damals nur etwa 30.000 Menschen lebten. 5.000 bis 6.000 Libyer wurden auf italienische Strafinseln deportiert.
Mussolinis faschistisches Italien: Senfgas und Konzentrationslager in Libyen
1922 wurde Benito Mussolini Ministerpräsident und die konstitutionelle Monarchie Italiens in eine faschistische Diktatur umgestaltet. Unmenschlichkeit rechtfertigte sie mit der angeblichen Überlegenheit der weißen Rasse. Der italienische Krieg gegen Libyen nahm infolgedessen neue Dimensionen an: Das faschistische Italien setzte Senfgas gegen die libysche Zivilbevölkerung ein und errichtete Konzentrationslager. Ein Großteil der halbnomadischen Bevölkerung der Kyrenaika, einer historischen Großprovinz Libyens, wurde in die Lager deportiert.
Der Vizegouverneur der Kyrenaika, Rodolfo Graziani, schrieb: „Die Regierung ist bereit, die Bevölkerung auszuhungern, wenn sie sich nicht vollständig unterwirft.“ Um die 100.000 Libyer wurden in den Lagern zusammengepfercht. 40.000 von ihnen verloren dort ihr Leben.
#BlackLivesMatter bringt die Aufarbeitung der Kolonialzeit voran
Nicola Labanca kritisiert, dass Italien sich seiner Kolonialvergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ausreichend gestellt habe. Erst jetzt scheint sich die italienische Bevölkerung dieser Vergangenheit wirklich bewusst zu werden: Im Zuge der weltweiten antirassistischen #BlackLivesMatter-Proteste haben auch in Italien antirassistische Gruppierungen verlangt, Denkmäler zur Erinnerung an Faschisten und Kolonialisten zu entfernen – zum Beispiel das Mausoleum, das die Gemeinde Affile bei Rom noch im Jahr 2012 dem Vizegouverneur Graziani errichtet hat.
Die Beziehungen bessern sich nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab Italien die Kolonie auf. Die Beziehungen zum nun unabhängigen Libyen besserten sich zunehmend: 1956 trafen beide Länder eine Vereinbarung zur wirtschaftlichen Kooperation, insbesondere im Bereich der Erdöl- und Gasförderung.
Gaddafis Putsch als Chance für Italien: Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen
Als sich der libysche Hauptmann Muammar Al-Gaddafi 1969 an die Macht putschte, baute Italien die Beziehungen zu Libyen weiter aus, vor allem im ökonomischen Bereich: Italienische Energiefirmen erhielten Aufträge in Libyen; libysche Banken erwarben Anteile an italienischen Unternehmen, etwa an FIAT.
Kritik: Berlusconis Freundschaftsvertrag mit Libyen soll Flüchtlinge stoppen
Als der Unternehmer Silvio Berlusconi 1994 Ministerpräsident Italiens wurde, inszenierte er sich als treibende Kraft der Wiedergutmachungspolitik. Der „Vertrag für Freundschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“, den er 2008 mit Gaddafi abschloss, wurde medial als Coup des Ministerpräsidenten inszeniert. Kritikerinnen und Kritiker vermuten als Motivation hinter Berlusconis Bemühungen jedoch die Abwehr von flüchtenden Menschen, die den afrikanischen Kontinent verlassen wollten: Im Freundschaftsvertrag verpflichtete sich Libyen, die eigenen Hoheitsgewässer von der Küstenwache patrouillieren zu lassen und Flüchtlingsboote nach Afrika zurückzuführen. Italien trainierte die libysche Küstenwache und lieferte Kontrollboote.
Arabischer Frühling 2011: Italien tut sich schwer, gegen Gaddafi vorzugehen
Als 2011 Libyens Bürgerinnen und Bürger im Zuge des Arabischen Frühlings protestierend auf die Straße gingen, ließ Gaddafi schwere Gewalt anwenden. Beim Eingriff der NATO tat Italien sich sichtlich schwer, gegen den ehemaligen Kooperationspartner vorzugehen. Unter der Ägide der UN kam 2015 ein Friedensabkommen zwischen den zwei wichtigsten libyschen Kriegsparteien zustande. Eine Einheitsregierung mit Sitz in Tripolis und Fayiz as-Sarradsch an der Spitze wurde installiert.
General Haftars Offensive schafft einen Stellvertreterkrieg
Seit 2014 macht der Warlord Khalifa Haftar der Einheitsregierung von Fayiz as-Sarradsch die Macht streitig. Der Bürgerkrieg in Libyen ist derweil ein Stellvertreterkrieg geworden, denn Ägypten, Jordanien, die Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Russland und auch Frankreich unterstützen Haftar: Der Warlord hat sich als Anführer im Kampf gegen den islamischen Terrorismus profiliert, deshalb betrachtet ihn die französische Regierung als eine Art natürlichen Verbündeten.
Italiens Einfluss schwindet
Arturo Varvelli, Leiter des European Council on Foreign Relations Rome (ECFR) meint: “In den letzten zwei Jahren hat Italien Sarradsch allmählich fallen gelassen. Denn man dachte, nun würde Haftar der neue Machthaber werden. Auf diese Weise hat die italienische Regierung die Gunst Haftars nicht gewonnen, aber den Einfluss, den sie auf Tripolis hatte, verloren.“
Erdoğans Türkei füllt das Vakuum nach Italiens verlorenem Einfluss
In das Vakuum, das Italien hinterlassen hat, ist ein anderer Akteur vorgestoßen: die Türkei. Zur Unterstützung as-Sarradschs hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Anfang 2020 syrische Söldner nach Libyen entsandt.
Im Stellvertreterkrieg geht es um neuentdeckte Gasvorkommen
Arturo Varvelli vom ECFR erklärt dieses Vorgehen so: „Im Osten des Mittelmeers, zwischen Zypern, Israel und Ägypten, sind neue Gasvorkommen entdeckt worden. Das ist ein neuer Energie-Hub, von dem aus eine Gaspipeline geplant ist, die das Gas an Apuliens Küste bringen soll. An dem Projekt sind Total [aus Frankreich], ENI [Italien], Griechenland und Ägypten beteiligt. Die Türkei ist außen vor geblieben. Deshalb hat Erdoğan mit as-Sarradsch eine Vereinbarung getroffen, die die Hoheitsgewässer im Mittelmeer neu verteilt, um Anspruch auf die Ölquellen zu erheben und die Pipeline zu verhindern. Diese Vereinbarung verstößt gegen internationale Regeln, aber sie ist der Preis, den as-Sarradsch für Erdoğans Unterstützung bezahlt hat.“
Die türkische Einmischung steht in der Tradition des Osmanischen Reichs
Nicola Labanca, der Historiker von der Universität Siena, erkennt in Erdogans Einmischung einen „Nachhall aus sehr alten Zeiten“. Die ehemalige Kolonie zurückzuerobern sei in der Tradition des Osmanischen Reichs zu betrachten.
Der Krieg geht weiter
Mit türkischer Hilfe ist es as-Sarradschs Truppen Anfang Juni gelungen, Haftars selbst ernannte Libysche Nationale Armee, die bis vor die Tore Tripolis' vorgerückt war, zurückzudrängen. Nach dem Rückzug haben die Regierungstruppen etwa acht Massengräber entdeckt. UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich schockiert. Emmanuel Macron und Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi wollen Verhandlungen in die Wege leiten. Die Lage bleibt kompliziert – und der Krieg geht weiter.