Der Reichstag vor Hitler

Parlamentsdebatten 1931 bis 1933: Geschichte und Bedeutung der Tonaufnahmen

Stand
Gespräch mit
Muriel Favre
Das Gespräch führte
Maximilian Schönherr

Muriel Favre ist Historikerin und war bis Anfang 2018 wissenschaftliche Dokumentarin am Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) Frankfurt.

Rundfunkmitschnitte: von Berlin über London ins Archiv nach Frankfurt

Dr. Favre hat in Paris zum Thema Rundfunk und Nationalsozialismus promoviert und ist Expertin für die Rundfunkmitschnitte der Weimarer Reichstagsdebatten. Sie erzählt unter anderem von dem langen Weg der Aufnahmen aus dem Archiv des Reichsrundfunks in der Berliner Masurenallee in ein Salzlager in Grasleben, wo 1945 die Britischen Truppen sie fanden und der BBC in London übergaben, wo sie ab ca. 1952 auf Tonbänder überspielt und dem Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt übergeben wurden.

Die Aufnahmen sind nicht zuletzt deswegen von großer Bedeutung, weil die komplette Reichstagsregistratur und die Akten der Berliner Funkstunde (des Berliner Senders zu Weimarer Zeit) im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. Außer den stenografischen Protokollen ist davon nur dieses Konvolut an Originaltönen überliefert.

Reichstagssitzungen ab 1930 via Direktleitung ins Funkhaus

Die Aufnahme von Reichstagssitzungen war technisch ab 1930 via Direktleitung ins Funkhaus möglich geworden. Man schnitt im Wechsel von vier Minuten auf zwei Wachsplatten mit, übertrug den Mitschnitt der ersten Platte sofort auf Kupfermatrizen, schliff die Wachsplatte glatt, um sie schnell wieder einsetzen zu können usw. Es ging im Haus des Rundfunks bei solchen Veranstaltungen sehr professionell zu, denn beim Zusammensetzen der 4-Minuten-Platten hat die BBC keine Lücken gefunden.

Deutsche Kriegsgefangenen übersetzen und verschlagworten für die BBC

Die BBC konnte Ende der 1940er Jahre mit dem Material wenig anfangen und stellte deutsche Kriegsgefangene ein, es in Teilen zu übersetzen und zu verschlagworten. Diese Erschließungsmaterialen sind im Deutschen Rundfunkarchiv erhalten.

Hoch politische Diskussion um Mitschnitt und Sendung der Debatten

Muriel Favre weist darauf hin, dass die Frage, ob Reichstagsdebatten nicht nur mitgeschnitten, sondern auch gesendet werden dürfen, hoch politisch war. Im Kern der u. a. vom parlamentarischen Ältestenrat mehrfach diskutierten Sache stand die dem Rundfunk auferlegte politische Ausgewogenheit. Wie, so die Frage, kann der Ausschnitt aus einer Reichstagsdebatte politisch ausgewogen sein?

Sitzung von Hitlers Machtergreifung erstmals live übertragen

Der Mitschnitt wurde ab den frühen 1930er Jahren stark befürwortet, weswegen so viel Material aus der 5. Wahlperiode erhalten ist; jedoch wurde die Ausstrahlung im Radio nicht genehmigt. Das änderte sich 1933: Die erste vom Rundfunk live übertragene Sitzung war die von Hitlers Machtergreifung am 23. März 1933. Sie fand nicht im Reichstag statt, weil dieser kurz zuvor abgebrannt war, sondern in der Kroll-Oper. Es war Hitlers erster Auftritt vor diesem Auditorium.

Muriel Favre merkt als Historikerin an, dass die Weimarer Demokratie nicht selbstbewusst genug war, den Rundfunkhörern die langen Debatten zuzumuten. Mehr Transparenz hätte der teilweise katastrophalen Außenwirkung des Parlaments gut getan.

Muriel Favre, Historikerin und wissenschaftliche Dokumentarin am Deutschen Rundfunkrundfunkarchiv Frankfurt
Muriel Favre

Korrektur: An einer Stelle des Interviews wird Paul Löbe versehentlich der Zentrum-Partei zugeordnet. Löbe war jedoch SPD-Mitglied.

Die Tondokumente

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Gespräch mit
Muriel Favre
Das Gespräch führte
Maximilian Schönherr