Corona und kein Ende in Sicht: Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass eine Konzerteinladung nach Berlin zum Ultraschall-Festival schließlich in einer Studio-Produktion enden würde?
Auf dem Programm stand unter anderem
Detlef Heusinger
Ver-Blendung für Bassflöte, Akkordeon und Live-Elektronik (2016)
Interpreten:
Maruta Staravoitava (Bassflöte) • Teodoro Anzellotti (Akkordeon) • Detlef Heusinger, Lukas Nowok, Maurice Oeser (Klangregie)
Detlef Heusinger ist unter den Komponist*innen unserer Zeit nicht nur einer der vielseitigsten und neugierigsten, seine Werke sind auch von einer faszinierenden Offenheit im Denken und dem Mut zum Wagnis geprägt. Seit 2006 ist Detlef Heusinger inspirierender künstlerischer Leiter des SWR Experimentalstudios in Freiburg. Vor zehn Jahren, 2011, hat er hier das Ensemble Experimental gegründet, dessen künstlerischer Leiter und erster Dirigent er ist. Das Ensemble Experimental besteht aus namhaften Solist*innen, allesamt ausgewiesene Expert*innen in der Interpretation von Musik mit Live-Elektronik. Zudem erweist sich das Ensemble Experimental gerade in diesem Segment als Forum des Austauschs von aufführungspraktischem Wissen und Erfahrung, schließlich arbeiten hier Musiker*innen mehrerer Generationen zusammen – darunter Künstler*innen, die seit 30 Jahren mit dem SWR Experimentalstudio verbunden sind. So wirkten einige der Ensemblemitglieder einst bei Uraufführungen von Werken Luigi Nonos oder von Pierre Boulez mit. Gerade diese aufführungspraktische oral tradition kann neben den analog und digital fixierten Dokumenten der künstlerischen Tradierung – Partituren, Schaltplänen oder Programmierungen – nicht hoch genug für die Geschichte der elektroakustischen Musik eingeschätzt werden. In einer Welt eines sich zunehmend schneller vollziehenden technischen Wandels wird die Bedeutung dieses Spezialwissens immer kostbarer. Die künstlerische Praxis des Ensemble Experimental ist von diesem Wissenstransfer geprägt.
Das Werk Ver-Blendung von Detlef Heusinger für Bassflöte, Akkordeon und Live-Elektronik entstand 2016 im Kontext mit neuen, im SWR Experimentalstudio entwickelten Techniken der Live-Elektronik. In ein neues Stück, das hier entsteht, fließt natürlich stets der state of the art aktueller technischer Möglichkeiten ein, mit den neuesten Verfahren elektroakustischer Klangverarbeitung und -bearbeitung. Dass dies jedoch nicht bloß ein seelenloser, eitler showcase bleibt, dazu braucht es die gestalterische Kraft des kreativen Künstlers. Ver-Blendung von Detlef Heusinger zeigt dies eindrucksvoll.
Eine Inspiration von vielen zu Ver-Blendung war für Detlef Heusinger das Gemälde Seestück (bewölkt) (1969) von Gerhard Richter: Dieses Bild zeigt ein bewegtes Meer und einen grauen Himmel, an einem Abschnitt in der Mitte des Horizonts ist die Trennlinie zwischen dem Meer und den tief liegenden grauen Wolken verwischt, die Übergänge erscheinen optisch aufgelöst. In Detlef Heusingers Ver-Blendung gibt es vergleichbare Phänomene der Auflösung von Grenzlinien und fließende Übergänge im Akustischen bei der vordergründig so unterschiedlichen Duo-Kombination Bassflöte und Akkordeon. Früh während des Kompositionsprozesses stellte Detlef Heusinger fest, dass bereits ohne live-elektronische Bearbeitung die beiden Instrumente sehr stimmig zueinander passen. Letzten Endes sei dies überhaupt nicht verwunderlich, denn die Prinzipien der Klangerzeugung seien im Grunde genommen vergleichbar, wie der Komponist im Interview vor der deutschen Erstaufführung von Ver-Blendung beim Festival Ultraschall Berlin 2021 bemerkt hat: »Beide Instrumente arbeiten bei der Tonerzeugung mit strömender Luft, bei beiden prägen auch Luftgeräusche das Spiel. Die Klänge von beiden, obwohl unterschiedlich, können tatsächlich sehr gut miteinander kombiniert werden, so dass die klanglichen Grenzen zwischen dem einen und anderen mitunter verwischen.« Nicht zuletzt aus diesen Beobachtungen entstand die Idee zum Konzept von Ver-Blendung, die spezifischen Klänge von Bassflöte und Akkordeon auf unterschiedlichen Ebenen zu verschmelzen.
Ver-Blendung präsentiert zu Beginn den traditionell verankerten Einsatz der Instrumente im Zusammenspiel: Das Akkordeon bringt eine atmosphärisch dichte akkordische Schicht ein, die Flöte ist die Trägerin der Melodie. Diese Rollen werden im weiteren Verlauf durch unterschiedliche Strukturen im musikalischen Satz und mittels vielfältiger Spieltechniken fortwährend konterkariert: Wenn die Flöte beispielsweise Multiphonics spielt, kann sich dies mittels Live-Elektronik zu einem veritablen akkordischen Spiel auswachsen, herkömmlicherweise die Domäne des Akkordeons. "Die Elektronik fungiert mit ihren Techniken zur Verblendung der Klänge als Katalysator dieser Verschmelzung", erklärt Detlef Heusinger. Auf diese Weise sind auch zum Beispiel Kreuzblenden zwischen den Klängen möglich: Aus- und Einklänge der beiden Instrumente verlaufen simultan und können ein Klangkontinuum bilden. Eine wichtige Rolle nimmt auch das Verfahren der Convolution ein, eine klangliche "Faltung", bei der beispielsweise das eine Instrument live-elektronisch die Ausklänge des anderen und umgekehrt übernehmen kann. Somit wird es möglich, dass mit Hilfe live-elektronischer Verfahren sowohl Flöte als auch Akkordeon kleinste Bestandteile im Klang des jeweils anderen Instruments übernehmen: Eine Verschmelzung auf Mikroebene.
Er habe über Convolution zudem Anteile weiterer Instrumente hinzugefügt, hat Detlef Heusinger erklärt. Deshalb klingen Flöte und Akkordeon zuweilen, als ob sie in einem Klavierkorpus gespielt würden: "Der Resonanzrahmen des Klaviers wird hier Teil der Musikalisierung", so der Komponist. Die Ausklänge sind mitunter so differenziert gestaltet, als ob dabei nur bestimmte Klaviersaiten im Resonanzraum oder sogar präparierte Saiten mitschwingen würden. Dies alles kann live-elektronisch erzeugt werden, ohne dass bei der Darbietung von Ver-Blendungein realer Flügel auf dem Podium steht. Auch Verfahren, die Oberton- oder Geräuschanteile zwischen Bassflöte und Akkordeon austauschen können, und vieles mehr ist möglich. So entstehen mannigfaltige Räumlichkeiten und Farbnuancen im Klang, geprägt von den instrumententypischen Charakteristika sowohl von Bassflöte als auch Akkordeon, das Ganze während des Spiels flexibel generiert durch modulierende Filter der jüngsten Generation, die sämtliche festgelegten Parameter mit praktisch unendlicher Variabilität verändern können. Dies alles ergibt ein vielfach changierendes Klangbild. Hinzukommt, dass Anteile des Gesamtklangs, die ohne Live-Elektronik nicht vom menschlichen Ohr wahrnehmbar wären, "klanglich mikroskopiert" werden können: Durch bestimmte Verfahren ist es möglich, etwa sehr leise Obertöne der Flöte oder sachte Balggeräusche des Akkordeons hervorzuheben. Und auch diese können wieder in ihrer räumlichen Klangwirkung eingesetzt und miteinander ausgetauscht werden. Eine Vielzahl völlig neuer Texturen im Klang ergibt sich auf diese Weise. In dieser Musik, die einen beim Hören und Sehen immer stärker in ihren Bann zieht, werden tatsächlich ganz neue Seiten der beiden Instrumente zutage gefördert. Eine spannende Expedition in das Innenleben ihrer Klänge. (Eckhard Weber)
Die anderen Stücke des Programms
Konzertvideo für das Ultraschall-Festival Berlin 2021 "…hoc…" von Mark Andre mit dem SWR Experimentalstudio
Corona und kein Ende in Sicht: Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass eine Konzerteinladung nach Berlin zum Ultraschall-Festival schließlich in einer Studio-Produktion enden würde?