Ein tiefbewegender Roman über das Suchen nach Identität in der Fremde, über die vielen Facetten von Einsamkeit und die immer wieder neuen Versuche, sie zu überwinden.
Es beginnt in Belsk, einer Kleinstadt in Sibirien, man schreibt das Jahr 1969: Die elfjährige Vera wird von ihren Mitschülern als »Faschistka - Faschistin« beschimpft. Vera ist gedemütigt, denn sie weiß nicht, warum sie eine Faschistin sein soll. Etwa, weil sie den deutschen Nachnamen Bergen trägt und zu Hause Deutsch spricht? So beginnt »Das Gedächtnis der Töchter«, das Romandebüt der Filmemacherin und Autorin Irene Langemann.
Als Vera kurz nach dem Vorfall krank wird, hat sie plötzlich viel Zeit, sich mit der Frage nach ihrer Identität zu beschäftigen. Außerdem stößt sie beim Stöbern nach Lektüre in der Wohnung auf das Tagebuch ihrer Mutter und eine Chronik ihrer Familie, die fast zweihundert Jahre zurückreicht. Von hier aus entspinnen sich die verschiedenen Handlungsfäden, die für den Roman entscheidend sein werden.
Veras Vorfahren sind Mennoniten
In der Folge erfährt der Leser aus der Perspektive von sechs Frauen die Geschichte der Familien Klassen, Friesen, Giesbrecht und Bergen: Veras Vorfahren sind Mennoniten, Mitglieder einer evangelischen Freikirche, deren Anhänger ursprünglich aus den Niederlanden stammten, sich später aber auch im Weichseldelta niederließen. Hier gibt es übrigens eine autobiographische Parallele, denn auch die Autorin Irene Langemann selbst - 1959 geboren im sibirischen Issilkul - stammt aus einer russlandmennonitischen Familie.
Im Jahre 1804 wandert Veras Ur-Ahn Abraham Klassen aus dem westpreußischen Burwalderfelde nach Neurussland aus: Damals versprach das Zarenreich den mennonitischen Umsiedlern nicht nur fruchtbares Land, sondern vor allem Freiheit vom Militärdienst, was aufgrund des mennonitischen Glaubensbekenntnisses der bei weitem wichtigste Grund für die Auswanderung war. Denn in Preußen drohte den männlichen Mennoniten seit 1789 die Einberufung ins Militär.
Ansiedlung in Russland als Erfolgsgeschichte
Im 19. Jahrhundert war diese Neuansiedlung - so erzählt es auch Langemann - eine Erfolgsgeschichte für beide Seiten: Denn die Deutschen brachten neue Ackerbautechniken mit, legten Feldrainbepflanzungen und Bewässerungssysteme an, gründeten Ziegeleien und Fabriken für Landmaschinen und machten so das Land urbar.
Mit dem 20. Jahrhundert aber beginnt dann eine Reise in die Abgründe der Geschichte. Der erste Weltkrieg, die Oktoberrevolution und der darauffolgende Russische Bürgerkrieg, der gewaltsame Umbau der Gesellschaft der Stalinzeit mit der entsetzlichen Hungersnot in der Sowjetunion zu Beginn der dreißiger Jahre und schließlich der Zweite Weltkrieg – all dies brachte Not, Leid und Entbehrungen mit sich.
Unter Stalin nach Kasachstan zwangsumgesiedelt
Die Russlanddeutschen wurden als Kollektiv verdächtigt, mit Hitlerdeutschland zu kollaborieren und daher in Viehwaggons verladen und nach Kasachstan zwangsumgesiedelt, wo auch Veras Großeltern in bitterer Armut noch einmal von vorn beginnen müssen. In einem Erdloch können sie sich eine Hütte bauen, graben im hartgefrorenen Boden nach letzten Kartoffeln, die sie aber dann wiederum als Proviant an die Armee abgeben müssen. Grundlose Verhaftungen und Zwangsarbeit folgen.
Schmerzhaft nah und bis an die Grenzen des Erträglichen führt uns Irene Langemann an die Schicksale heran, die auch die ihrer eigenen Familie sind, etwa wenn Vera Bergens Mutter Anna ihren vierjährigen Neffen beim Versuch Essen zu erbetteln an einem Bahnhof verliert, der Transport ohne ihn abfährt und niemand weiß, was aus dem Kleinen nun wird. Wenn im Lager der Trudarmija, der Fronarmee, in der Anna zur Zwangsarbeit verpflichtet ist, eine Mitinsassin Annas mit vereiterten Augen dasitzt und sich eine Suppe aus einer Katze kocht, weil der Hunger sie jeglichen Ekel vergessen lässt. Oder wenn auf einem Transport durch die Wüste Kasachstans die Kinder verhungern und die Leichen lediglich am Bahndamm abgelegt werden dürfen.
Das Tagebuch der eigenen Mutter
All das erfährt Vera aus den Tagebüchern ihrer Mutter. Das geht an die Nieren. Langemann schafft es aber, einen präzisen Ton nicht nur für das Abstumpfen ihrer Figuren zu finden, sondern auch für die Kraft, die Veras Mutter wie durch ein Wunder immer wieder schöpfen kann, um zu überleben. Gerade das Aufzeichnen, das Registrieren und Erzählen, hilft ihr, nicht vollkommen in die Hoffnungslosigkeit abzudriften.
Als Ausgangspunkt für den Roman dienten Irene Langemann die Tagebücher und Erinnerungen ihrer Mutter. In ihrem Roman nun verdichtet sie all dies literarisch auf kunstvolle Weise, durchzogen von einem Grundmotiv: Der Suche der Mennoniten nach Identität in der Fremde und dem Versuch, in dem krisengebeutelten Land Wurzeln zu schlagen.
Es ist ein so packendes wie erschütterndes Sinnbild für das kollektive Trauma dieser Volksgruppe. Packend, weil man trotz all der geschilderten Grausamkeiten das Buch nicht weglegen kann und will, weil einem die Figuren so ans Herz wachsen, einen ihr Schicksal in den Bann zieht. Dazu trägt auch die klare und schlichte Sprache Langemanns bei.