In der Geschichte der Philosophie gibt es eine lange Tradition der Abwertung pflanzlichen Daseins. Pflanzen wurden als passive Wesen wahrgenommen, die für das Gegenteil von Vernunft und Autonomie stehen. Im Anthropozän scheint sich das jetzt zu ändern, schreibt die Philosophin Theresa Schouwink in ihrem Essay. Allerdings seien die Annäherungsversuche zwischen Mensch und Pflanze wohl zum Scheitern verurteilt.
Lange Zeit war es für den westlichen Menschen sehr wichtig, keine Pflanze zu sein.
Auf der Stufenleiter des Seins platzierte er die Pflanzen ganz unten, knapp über den Steinen. Für Aristoteles etwa haben Pflanzen zwar eine Seele, aber nur in der Minimalform der „Nährseele“.
Der Mensch, der darüber hinaus über Vernunft verfügt, befindet sich dagegen ganz oben auf der Leiter der Existenz. Für ihn gilt es, jede Pflanzenähnlichkeit zu vermeiden.
Vegetatives Dasein als abschreckendes Beispiel
Aristoteles zufolge heißt das vor allem, sich keine Fehler bei der Betätigung der Vernunft zu leisten, da sonst der ontologische Abstieg folgen könnte. Selbst in der Zeit der Aufklärung findet sich noch der Gedanke, der Mensch sei zu Höherem berufen, doch drohe ihm überall, sein Dasein in den Ketten eines vegetativen Daseins zu fristen.
So heißt es bei Kant: „Wenn man das Leben der meisten Menschen ansieht: so scheint diese Creatur geschaffen zu sein, um wie eine Pflanze Saft in sich zu ziehen und zu wachsen, sein Geschlecht fortzupflanzen, endlich alt zu werden und zu sterben.“ Die Pflanze in ihrer vermeintlichen Passivität steht hier für das Gegenteil von Vernunft und Autonomie, beides Ideale der Aufklärung.
Pflanzen fristen primär passive Existenzen
Der Mensch der Moderne fürchtet die Pflanzenähnlichkeit jedoch keineswegs nur aus philosophischer Sorge um seine Rationalität.
Das Pflanzendasein liefert vielmehr in jeder Hinsicht das Gegenbild seines Existenzprogramms: Während er mindestens touristischen, wenn nicht sogar kolonialistischen Ehrgeiz entwickelt, bleibt die Pflanze an einem Ort in der Erde stecken. Während der Mensch seine Individualität behaupten will, erscheint die Identität der Pflanze unbestimmt. Während er seine Umgebung technisch beherrschen möchte, geht die Pflanze einfach in ihr auf.
Wandel der Pflanzenwahrnehmung im Anthropozän
Doch hat sich das Blatt nicht inzwischen gewendet? Hat sich nicht alles, womit wir Abstand und Unterschied zur Pflanze sichern wollten – Mobilität, Individualität und Technik – als brandgefährlich erwiesen?
So zeichnet sich im Anthropozän ein grundlegender Wandel ab: Die Pflanze wird vom ontologischen Fußabtreter zum Vorbild. Angesichts von Klimakrise und Artensterben wirkt die verwurzelte und „festsitzende“ Lebensweise der Pflanzen nicht mehr öde, sondern weise.
Erdverbundenheit als Gegengift gegen Konsumismus und Einsamkeit
Denker wie Bruno Latour mahnen zu mehr „Erdgebundenheit“, Donna Haraway empfiehlt uns gar die Transformation vom „Homo“ zu „Humus“. Statt den Kopf in den Wolken zu haben, sollen wir künftig die Bodenhaftung wiederfinden und uns unserer chthonischen Heimat bewusst werden.
Auf überflüssiges Herumfliegen und -fahren gilt es demnach zu verzichten. Ebenfalls unattraktiver geworden ist die moderne Individualität, die sich oft als traurige Kombination aus Einsamkeit und Konsumismus entpuppt hat.
Demgegenüber erscheint die „Dividualität“, also die Teilbarkeit von Pflanzen attraktiv, die schon in ihrem physischen Aufbau kaum die Abgrenzung einer Identität erlauben. Während beim Einzelmenschen klar zu sein scheint, welche Arme und Beine zu ihm gehören, bleibt bei der Pflanze zweifelhaft, ob ein Steckling Teil von ihr oder ein neues Wesen ist. Die Grenzen zwischen Einzelnem und Anderen zerfließen.
Annäherungsversuche zwischen Mensch und Pflanze
Vorbildlich wirkt auch das symbiotische Aufgehen der Pflanze in ihrer Umgebung. Statt die Natur durch Technik zu beherrschen, erhält die Pflanze mittels Photosynthese sich und andere am Leben. Was für uns Utopie bleiben muss – existieren zu können, ohne töten zu müssen – gelingt ihr scheinbar mühelos.
Kein Wunder, dass zuletzt zahlreiche Bücher wie Sumana Roys „Wie ich ein Baum wurde“ erschienen sind. Die Plätze auf der Stufenleiter des Seins haben sich vertauscht: Die Menschen erscheinen als Befall der Erde, die Pflanzen als ätherische Wesen, denen es nachzueifern gilt.
Doch fragt sich, ob diese Annäherungsversuche nicht zum Scheitern verurteilt sind. Nach artgerechter Haltung klingt die Vorstellung eines in der Erde steckenden, identitätslosen und vernunftbefreiten Menschen jedenfalls nicht.
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