Die Geschichten Jaakobs

Stand
Autor/in
Thomas Mann

Hörspiel mit einem Vorspiel und sieben Hauptstücken nach dem gleichnamigen Roman.

Das Thomas Mann-Jubiläumsjahr 2025 (150. Geburtstag am 16. Juni und 70. Todestag am 12. August) läutet SWR Kultur mit der Ursendung seines Romans „Die Geschichten Jaakobs“ ein. Eine besondere allwöchentliche „Adventsüberraschung“ bis zu Heilige Drei Könige 2025.

Manns Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“ über den alttestamentlichen Joseph, den seine Brüder verkauften, der aber als Ausländer in Ägypten zum Berater Pharaos aufstieg und sein Volk vor dem Untergang rettete, beginnt mit den auch eigenständig zu lesenden „Geschichten“ über den Begründer der zwölf Stämme Israels, über seinen Vater Jaakob.

Corinna Harfouch und Jens Harzer
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Corinna Harfouch in den Rollen Rebekka, Isaaks Frau sowie Städterin aus Beth-el
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Jens Harzer in der Rolle Jaakob, Sohn von Issak und Rebekka
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Ole Lagerpusch in der Rolle Joseph, Sohn Jaakobs und Rahels
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Ole Lagerpusch, Corinna Harfouch und Jens Harzer
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Felix Goeser in der Rolle Esau, Zwillingsbruder Jaakobs
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Sebastian Blomberg in der Rolle Laban, Rebekkas Bruder und Jaakobs Onkel
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Werner Wölbern, Imogen Kogge und Elisa Schlott
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Imogen Kogge als Erzählerin 1
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Elisa Schlott als Erzählerin 2
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Werner Wölbern als Erzähler
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Lisa Hrdina in den Rollen Dina, Tochter Jaakobs und Leas sowie Rahel, jüngste Tochter Labans, Frau Jaakobs und Mutter Josephs
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Gerd Wameling in den Rollen Hemor, Stadtoberhaupt von Schechem sowie Isaak, Sohn Abrahams
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Sina Martens in der Rolle Lea, Labans älteste Tochter, Frau Jaakobs und Mutter von Jaakobs Tochter Dina sowie weiterer Söhne Jaakobs
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Patrick Güldenberg in der Rolle des Dan, Sohn Jaakobs
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Stephan Wolf-Schönburg in der Rolle Sichem, Sohn von Hemor
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Hermann Kretzschmar, der Komponist mit dem Ensemble Teraphim Consort
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Erzälerinnen und Erzähler mit Regisseur Ulrich Lampen
Erzälerinnen und Erzähler mit Regisseur Ulrich Lampen (v.l. Werner Wölbern, Ulrich Lampen, Imogen Kogge und Elisa Schlott) Bild in Detailansicht öffnen

In sieben Teilen und einem Vorspiel erzählt Mann „Die Geschichten Jaakobs“ als eine mythische „Familiengründung“, die, wie alle Dynastien, auf Gewalt, Betrug, Sex, Eifersucht Hybris und Bruder- wie Schwesternzwist gründet. HBO hat zuletzt mit „Succession“ gezeigt, dass dieses Erzählmodell immer noch funktioniert.

Diese „mafiöse“ Familiengründung endet bei Mann hingegen in einer geistigen, eine zivilisierte Ordnung schaffenden Sublimierung. Manns Humor und Sarkasmus verknüpfen hier alttestamentarische Sprachwucht lutherischer Prägung mit saloppen Alltagsdeutsch.

Das Hörspiel ändert die Sprache Thomas Manns nicht, oder nur in dem Sinne, dass Erzählpassagen aus dem Imperfekt/Perfekt ins Präsens gezogen werden, um sie in Figurenrede zu überführen.

Ein Interview mit dem Germanisten Matthias Löwe finden Sie am Fuß der Seite unter „Wie steht`s um Thomas Manns 'Jaakob'?“

Besetzung: Sandra Pasic und Nana Rademacher
Musikaufnahme Ton und Schnitt, Frankfurt am Main: Felix Dreher
Wortaufnahme, Berlin: Alexander Nottny
Schnitt Wortaufnahmen, Baden-Baden: Uwe Strack
Wortaufnahme Baden-Baden, Soundesign und Mischung: Andreas Völzing
Regieassistenz: Constanze Renner

Hörspielbearbeitung: Manfred Hess
Komposition: Hermann Kretzschmar
Regie: Ulrich Lampen
Produktion: SWR 2024

Wie steht`s um Thomas Manns 'Jaakob'?

Gespräch von Manfred Hess mit dem Germanisten Matthias Löwe über den ersten Band von Thomas Manns Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“.

MANFRED HESS
Thomas Manns Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“ gehört heute nicht mehr zum Lektürekanon, wenn von den Prosatexten Manns gesprochen wird. Dabei ist sie eines seiner Hauptwerke und neben dem „Doktor Faustus“ sein bedeutendstes, im Exil geschriebenes Werk. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

MATTHIAS LÖWE
Ja, die vier Josephsromane sind der am wenigsten gelesene Text Thomas Manns, aber zugleich sein Hauptwerk. Die relative Unbekanntheit der Tetralogie hängt natürlich mit ihrer enormen Länge von knapp 2000 Druckseiten zusammen, ein selbst für Mann-Fans ziemlich happiger Umfang. Ein weiterer Grund ist das Bildungswissen, das die Josephsromane bei ihren Leserinnen und Lesern voraussetzen. Im Grunde würde es aber vielleicht schon genügen, wenn man die Geschichten von Jakob und seinen Sohn Josef aus der Genesis, dem 1. Buch Mose, ungefähr kennt – und das sind ziemlich spannende Geschichten, von denen man eventuell im Religions-, Konfirmations- oder Kommunionsunterricht gehört hat.

MANFRED HESS
Die biblischen Geschichten aus der Genesis, davon sollten ein jeder, eine jede nicht nur gehört haben, sie sollten zumindest in den Grundzügen aus Familie und Schule als bekannt vorausgesetzt werden. Sie gehören zum Basiswissen, zu den essentiellen Geschichten europäischer Kultur und Religion. Aber wie steht es mit den Verweisen auf die vergangenen realen Zivilisationen, etwa das alte Ägypten? Sind sie essentiell für das Verständnis der Romane?

MATTHIAS LÖWE
An den zahlreichen Anspielungen auf die altägyptische und babylonische Geschichte und Mythologie könnte man sich, denke ich, auch im Zustand des Halbverstehens oder Ahnens entlang oder vorbeilesen, ohne dass das dem Lesevergnügen unbedingt abträglich ist. Außerdem gibt es inzwischen fantastische Hilfsmittel, die das Verstehen erleichtern: vor allem der detaillierte Stellenkommentar in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns, der seit 2018 vorliegt. Aber dieser Kommentar kostet Geld und ist eher etwas für Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler. Im Internet findet man allerdings kostenlos ein sehr verlässliches Hilfsmittel, nämlich das exzellente Online-Lexikon zur Josephstetralogie von der Saarbrücker Germanistin Anke-Marie Lohmeier (https://literaturlexikon.uni-saarland.de/lexika/lexikon-zu-thomas-manns-joseph-und-seine-brueder).

MANFRED HESS
Gibt es auch eine Zugangsbarriere – um ein heute negativ beleumundetes Wort einmal ins Spiel zu bringen – , die in der Romananlage selbst begründet liegt?

MATTHIAS LÖWE
Möglicherweise ist das üppige Vorwort der Josephsromane eine Rezeptionssperre: Thomas Mann versucht hier in einer Art kulturphilosophischem Essay, der Muster der zeitgenössischen Weltanschauungsliteratur ironisch zitiert, einige Grundideen des Romanprojekts zu skizzieren. Herausgekommen ist ein Text von großer sprachlicher und gedanklicher Dichte. Oft wird daher empfohlen, beim ersten Zugang zu den Josephsromanen dieses Vorwort zunächst zu überspringen und gleich mit der eigentlichen Geschichte zu beginnen, mit der sehr eingängigen Schilderung einer nächtlichen Begegnung zwischen dem 17-jährigen Joseph, der sich mit jugendlichen Flausen im Kopf im Freien aufhält, und seinem überängstlichen, besorgten Vater Jaakob.

MANFRED HESS
Die Hörspielfassung verzichtet bewusst nicht auf diesen „Vorspiel: Höllenfahrt“ genannten ersten Teil. Die Hörer können aber, so sie wollen, sofort mit dem 2. Teil, dem „1. Hauptstück: Am Brunnen“ beginnen. – Richten wir das Augenmerk auf die Entstehungsgeschichte der „Joseph“-Romane:  Ist hier überhaupt von einem Exilwerk zu sprechen oder sind diese vier Romane nicht sehr heterogen? Was ist das Besondere an der Veröffentlichungsgeschichte?

MATTHIAS LÖWE
Thematisch verlässt Thomas Mann mit diesem Romanprojekt europäischen Boden und erzählt von Vorgängen im Nahen Osten und Ägypten. Auch der Entstehungsgeschichte nach handelt es sich um eine Bewegung in die Welt hinaus. Die Josephsromane sind in verschiedener Hinsicht ein durch die Emigration erzwungenes Werk aus dem Umzugskarton, wovon nicht nur Autor und Werk, sondern auch der Protagonist Joseph sowie Thomas Manns Verlag betroffen waren: Die Geschichten Jaakobs wurden 1926 noch in der Weimarer Republik begonnen und erschienen 1933 im S. Fischer Verlag Berlin, ebenso wie der 1934 publizierte zweite Band Der junge Joseph. Es gehört jedoch zu den bemerkenswerten Koinzidenzen zwischen Werk und Leben, dass Mann das Romanprojekt mit in die Emigration nimmt, und zwar genau an jenem Punkt der Handlung, als auch der Protagonist Joseph ins erzwungene Exil geht, als er von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wird: Der umfangreiche dritte Teil, Joseph in Ägypten, entstand unter den schwierigen Bedingungen der frühen Emigrationsjahre. Noch 1932 wurde mit der Arbeit begonnen, den Großteil des Textes hat Mann aber in der Schweiz verfasst, und 1936 kam der Roman bei Bermann-Fischer – nun in Wien – heraus. Erst 1940, im amerikanischen Exil, begann schließlich die Arbeit an Joseph der Ernährer, und 1943 erschien dieser finale vierte Band im Bermann-Fischer-Verlag, der nun in Stockholm ansässig war.

MANFRED HESS
Und wie beurteilen Sie diese Entstehungsumstände, handelt es sich um ein Exilwerk?

MATTHIAS LÖWE
Die Josephsromane entstanden in einer besonders unsteten Lebensphase, in der Mann so oft wie nie zuvor Länder und Wohnorte wechselte. Diese bewegten Entstehungsumstände haben dazu geführt, dass die Josephstetralogie ab dem dritten Band als Exilroman gedeutet wurde, mit dem biblische Ägypten als epischem Raum zur Darstellung von erzwungenen biographischen Exilerfahrungen. Dazu beigetragen hat vor allem der vierte Band Joseph der Ernährer, in dem sich markante Einflüsse der amerikanischen Zeitpolitik auf die Gestaltung des biblischen Ägypten zeigen. Mann plante allerdings schon, von Josephs ägyptischem Exil zu erzählen, als er von seiner eigenen Emigration noch nichts ahnte und davon ausgehen musste, dass er das Joseph-Projekt am Münchner Schreibtisch – und nicht in Kalifornien – zum Abschluss bringen würde. Das Roman-Ägypten ist daher nicht von Beginn an ein epischer Raum zur Darstellung von Exil-Erfahrungen, sondern wird erst unter der Hand dazu.

MANFRED HESS
Was unterscheidet „Die Geschichten Jaakobs“ von den späteren Bänden der Tetralogie?

MATTHIAS LÖWE
Den offensichtlichsten Unterschied markiert schon der Titel: Im ersten Band der Tetralogie ist nicht Joseph, sondern sein Vater Jaakob die Hauptfigur. Die Geschichten Jaakobs beginnen zwar, wie oben gesagt, mit jener nächtlichen Szene am Brunnen, als Jaakob seinem 17-jährigen Sohn Joseph begegnet, um den er sich „ammenhaft“ sorgt, wie es im Roman heißt. Während der Unterhaltung mit Joseph verfällt Jaakob jedoch in ein tiefes „Sinnen“, verliert sich in Erinnerungen an seine eigene Jugend, die dann in den folgenden Hauptstücken nacherzählt werden. Daher bestehen Die Geschichten Jaakobs in stärkerem Maße als die anderen Bände aus Rückblicken. Vielleicht gehören diese Geschichten von Jaakobs Jugend sogar zu den spannendsten Passagen der gesamten Tetralogie: Ich denke etwa an Jaakobs Rivalität mit seinem Bruder Esau und die Flucht zu seinem herrischen Onkel Laban, dem Jaakob jahrelang dient, um dessen Tochter Rahel heiraten zu dürfen. Ein unvergesslicher Höhepunkt ist die Darstellung von Jaakobs Hochzeit, bei der der intrigante Laban ihm die falsche Braut, seine andere Tochter Lea, unterschiebt, um Jaakob noch weitere Dienste abzupressen, bis er Rahel endlich heiraten darf. Das ist alles ziemlich gut geplottet und süffig zu lesen. Besonders anrührend ist der Romanschluss: Das erschütternde Sterben von Jaakobs großer Liebe Rahel am Wegesrand und Jaakobs Hadern mit Gott: „Herr, was tust du?“

Eine weitere Besonderheit der Geschichten Jaakobs ist, dass es sich um den ersten Band des gesamten Roman-Projekts handelt: Und dieser Band, mit dem Mann Geschichten der Hebräischen Bibel neu erzählt und damit an Kernbestände der jüdischen Tradition erinnert, erscheint just im Herbst 1933, und zwar auch noch in deutschen Buchhandlungen. In einem Brief von 1934 schreibt Mann, dass sein Romanprojekt durch dieses Erscheinungsdatum „ungewollt und unverhofft“ in eine „oppositionelle Rolle“ hineingewachsen sei, gegen die er aber „nicht das Geringste einzuwenden“ habe. Der Germanist Kai Sina hat kürzlich zudem auf die Besonderheit des doppelten „a“ aufmerksam gemacht, das Mann für die Namensschreibung seiner Hauptfigur wählt und das schon im Titel prangt: eben nicht Jakob, sondern Jaakob. Darin liegt, so Sina, ein „diskretes Verfremdungssignal“, das die ursprüngliche hebräische Schreibung dieses Namens mit der deutschen zusammenführt und so eine Zusammengehörigkeit von jüdischer und deutscher Kultur hervorhebt – und all dies im ersten Jahr des nationalsozialistischen Regimes.

MANFRED HESS
Inwieweit ist der „Jaakob“ eine moderne Aneignung des biblischen Stoffes?

MATTHIAS LÖWE
1928, während der Arbeit an dem Roman, berichtet Mann einmal, dass er Gustave Flauberts Salammbô (1863) – einen historischen Roman im antiken Karthago – wiedergelesen habe, aber nur, um zu sehen, „wie man es heute nicht machen kann[:] Nur keinen archäologischen Brokat! Nur nichts Gelehrt-Artistisches und keinen gewollt gegenbürgerlichen Kult krasser Exotik!“ – Der wichtigste Unterschied zwischen Flauberts historischem Roman und Manns moderner Aneignung des biblischen Stoffes ist die bei Mann eingeführte Erzählinstanz, die auch als wesentliche Quelle von Komik in den Josephsromanen dient. Flauberts Erzählen will – ganz im Sinne des Realismus – beim Lesen eigentlich das Erzähltsein bzw. den Erzähler vergessen machen und dazu reizen, sich die dargestellte Welt als eine epische Objektivität zu erschließen. Mann hingegen führt eine sehr prägnant hervortretende Erzählerstimme ein und betont damit den subjektiven Charakter des Dargestellten bzw. dessen Perspektivgebundenheit. Dieser Erzähler von Manns Josephsromanen sucht in der deutschen Literatur seinesgleichen: Man hat ihn sich als einen Historiker vorzustellen, der mit seiner „besonnen untersuchenden Erzählung“ die „Mondlicht-Genauigkeit“ der biblischen Geschichten mit neuzeitlicher Rationalität durchdringen will, der sich also zur „genauen und zuverlässigen Wiederherstellung“ ausgerechnet mythischer und legendarischer Geschichten verpflichtet. Das ist aber nur der Standpunkt des Erzählers, nicht derjenige Thomas Manns: Vielmehr wird in den Josephsromanen gerade dieser genauigkeitsbesessene Erzähler ironisiert, denn er praktiziert pseudowissenschaftliche Übergenauigkeit auf denkbar dünner Faktenlage und liefert für seine zahlreichen Thesen kaum rationale Begründungen. Insbesondere wegen dieses Erzählers – der sich objektiv geriert, aber eigentlich subjektive Ansichten präsentiert – hat Mann sein Romanprojekt als großangelegten „Mammut-Spaß“ bezeichnet, denn „das Wissenschaftliche, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte ist pure Ironie“, sagt er.

MANFRED HESS
Zum Abschluss eine Frage der Terminologie abseits eines heutigen strukturalistischen Verständnisses wie bei Claude Lévi-Strauss: Was versteht Thomas Mann unter „Mythos“, der im Sinne der Aufklärung genutzt werden sollte?

MATTHIAS LÖWE
Das ist eine große Frage, bei der man etwas ausholen muss: Thomas Mann hat Mitte der 1920er Jahre mit den Josephsromanen begonnen und in der Zeit der Weimarer Republik waren auffällig viele Intellektuelle fasziniert vom mythischen Denken. „Mythos“ war ein Modewort. Der US-amerikanische Germanist Theodore Ziolkowski hat sehr treffend vom „Hunger nach dem Mythos“ in den 1920er Jahren gesprochen. Was „Mythos“ dabei meinte, ist schwer zu sagen. Sicherlich nicht so etwas wie eine Rückkehr zu konkreten antiken Mythologien: Es ging nicht darum, wieder an Zeus zu glauben. Mythos war im Mund vieler Intellektueller der 1920er Jahre eher eine kultur- und modernekritische Negationsformel, ein vages Wunschbild, das sich gegen Konzepte wie Vernunft, Zivilisation und Aufklärung richtete, etwa im Werk des Philosophen Ludwig Klages. Thomas Mann war einerseits fasziniert von dieser intellektuellen Mythos-Begeisterung. In seinem Lebensabriß von 1930 schreibt er: „die Neugier nach dem menschlichen Frühen und Ältesten, dem Vorvernünftigen, Mythischen, Glaubensgeschichtlichen ist rege in uns allen“. Unheimlich ist ihm aber der dabei mitschwingende radikale Wunsch, die Aufklärung, Moderne, den Intellekt gleichsam abzutöten. Er äußert sich daher besorgt über die „Verflachung des Geistes“, die sich in der Begeisterung für den Mythos Bahn bricht.

Schon im Lebensabriß erläutert Mann mithilfe einer Formel, die er die gesamten 1930er Jahre hindurch oft gebraucht, die Grundstruktur seiner eigenen Bezugnahme auf den Mythos in den Josephsromanen: „Mythus und Psychologie, – die antiintellektualistischen Frömmler wollten das weit geschieden wissen. Und doch konnte es, so schien mir, lustig sein, vermittelst einer mythischen Psychologie eine Psychologie des Mythus zu versuchen“. Mythos und Psychologie – das meint bei Mann, der Wirklichkeit nicht raunend eine verborgene mythische Dimension zu unterstellen, nicht die Wirklichkeit des Mythos zu behaupten, sondern mythisches Denken als Weltanschauung von Figuren darzustellen, bedeutet also, die Psychologie mythischen Denkens im Roman zu erkunden. Diese Psychologisierung des Mythos ist auch eine Reaktion auf die nationalsozialistische Instrumentalisierung des Mythos, etwa in Alfred Rosenbergs antisemitischer Propaganda-Schrift Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930). Dagegen gerichtet verfolgt Mann das Ziel, wie er Karl Kerényi brieflich erläutert, „den Mythos den fascistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane ‚umzufunktionieren‘“.

Es geht Mann also nicht um eine Überwindung mythischen Denkens, sondern um seine Legitimierung jenseits einer „fascistischen“ Verabsolutierung des Mythos. Das mythische Denken soll als Bestandteil des menschlichen Bewusstseins dargestellt, aber nicht zu dessen eigentlichem Kern stilisiert werden. In den Josephsromanen ist mythisches Denken daher ein Aspekt der Psyche von Figuren. Mythisch denkende Figuren befinden sich in einer „schwankenden Bewußtseinslage“ und zeichnen sich durch eine „träumerische Ungenauigkeit ihres Denkens“ aus (diese und die folgenden Zitate stammen aus den Josephsromanen). Mythisch denkende Figuren nehmen sich selbst nicht als klar abgegrenztes Individuum wahr, sondern „wandeln in Spuren“. Ihre „offene[] Identität“ zeigt sich daran, dass sie „zwischen Ich und Nicht-Ich weniger scharf unterschied[en]“ und „nicht immer ganz genau wußten, wer sie waren“. Ihre Identität steht „nach hinten offen“ und nimmt Vergangenes mit auf. Sie deuten das eigene Leben als Wiederholung mythischer Geschichten, als biographische „Imitation“ der eigenen Vorfahren oder mythischer Götter.

MANFRED HESS
Wie muss man sich das vorstellen?

MATTHIAS LÖWE
Als beispielsweise der altersverwirrte Isaak, Josephs Großvater, stirbt, verfällt er in ein markerschütterndes „Urgeblök“, das die Laute eines Widders nachahmt. Am Schluss seines Lebens weiß Isaak also nicht mehr zwischen seinem Ich und jenem Schafsbock zu unterscheiden, den sein Vater Abraham – dank Gottes Einschreiten in letzter Minute – an seiner statt geopfert hatte. Josephs Vater Jaakob hatte seinem Bruder Esau mit einem Linsengericht den Erstgeburtssegen abgeluchst. In der Wut, die Esau darüber befällt, erkennt dieser bei sich und Jaakob das wiederkehrende Schema der feindlichen Brüder Kain und Abel. Auch Joseph selbst deutet seinen Aufenthalt in Ägypten als Wiederholung eines mythischen Schemas, als „Höllenfahrt“, als Abstieg in die Unterwelt: Sein Vater Jakob hatte vor der Wut Esaus zu seinem Onkel Laban fliehen und diesem jahrelang dienen müssen. Als nun Joseph von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wird, erlebt er dies als die Wiederholung jenes Abstiegs ins „Labansreich“, den sein Vater Jaakob eine Generation zuvor schon vollzogen hatte. In all diesen Situationen denken Manns Figuren mythisch. Ihr Ich wird dabei fluide, verliert seine feste Umgrenzung, steht nach hinten offen, vergegenwärtigt Vergangenes. Der Roman suggeriert zudem, dass dieses mythische Denken in Ähnlichkeiten auch in der Moderne keineswegs abgegolten ist, sondern neben dem Konzept rationaler Unterscheidung untergründig weiterwirkt.

Wir danken für das Gespräch.

  • Einführung zum SWR-Hörspielprojekt „Die Geschichten Jaakobs”

    Thomas Manns „Die Geschichten Jaakobs“ - Informationen zur 8-teiligen SWR-Hörspielfassung mit Jens Harzer, Corinna Harfouch, Imogen Kogge, Werner Wölbern u. a.


    Sprecher: Marcus Westhoff
    Autor: Manfred Hess
    Produktion: SWR 2024 - Premiere

  • Die Geschichten Jaakobs – Vorspiel: Höllenfahrt

    Facts and Fakes in der Genesis des Alten Testaments – Thomas Manns ironischer Essay-Auftakt zu seiner sieben Geschichten über den biblischen Jaakob und die Mythen.
    Das erste Kapitel des Romans ist als Vorspiel eine ironisch-humorvolle Spielerei mit der Form des Essays. Zwei Frauen und ein Mann sind eine Gruppe von Geschichten-Erzählern, die nicht immer einer Meinung ist. Sie diskutieren Ursprungsmythen der Bibel wie die Vertreibung aus dem Paradies, der Mord von Kain an Abel, der Zeitpunkt der die Sintflut mit der Arche Noah. Am Ende geben sie den Raum frei für eine „Fröhliche Wissenschaft“: Diese Erzähler, also sie dürfen fiktionalisieren, d.h. künstlerisch die Jaakobs- wie Josephs-Geschichten aus der Genesis des Alten Testaments künstlerisch gestalten und erfinden. Modern formuliert: „Dekonstruieren“. Thomas Mann erteilt sich somit die „license to lie“, Grundlage aller Fiktion.

  • Die Geschichten Jaakobs – Hauptstück I: Am Brunnen (1/7)

    Jaakobs „Geschichten“ beginnen mit einer innigen, homoerotisch aufgeladenen Vater-Sohn-Szene. Der Jüngling Joseph, Jakobs Lieblingssohn, ist von magischer Schönheit; an einem Brunnen nimmt er ein Bad und trocknet selbstverliebt seinen Körper. Jaakob beobachtet ihn, tadelt seinen Narzissmus, bekräftigt aber, nachdem Joseph klug wie eitel seinen Vater umgarnt, den Bund zwischen beiden. Denn der mit allen Gaben gesegnete Joseph soll das künftige Familienoberhaupt werden - was ihn unweigerlich zur Arroganz gegenüber seinen älteren Brüdern verführt, dessen Hybris nicht unbestraft bleiben muss.

  • Die Geschichten Jaakobs – Hauptstück II: Jaakob und Esau (2/7)

    Wer ist eigentlich Jaakob, der die 12 Stämme Israel gründete? Was unterscheidet ihn von seinem um Sekunden älteren Zwillingsbruder Esau? Während Esau auf die Jagd geht, ein Freund eines wilden ungezügelten Lebens ist und mit Frauen ohne Prüfung ihrer Herkunft Kinder zeugt, erweist sich Jaakob als züchtiger und geschickter Hirte. Er bestellt mit Klugheit wie List sein Haus und weiß um die Mission, den Bund mit Gott zu wahren und sein Volk später zu führen. Jaakobs Charakter ist jedoch zwiespältig: Um als Chef des Stammes zu gelten, betrügt er seinen Bruder Esau um den Segen des Vaters. Als Esau und dessen Sohn Eliphas den Betrug rächen wollen, weiß er wie ein guter Schauspieler, Mitleid zu erregen: nicht Täter, sondern leidendes Opfer wäre er im Schicksalslauf der rätselhaften Taten und Beschlüsse Gottes gewesen. So Jaakob. Als Buße muss der „gesegnete“ Jaakob jedoch das Land verlassen, er geht ins Exil.

  • Die Geschichten Jaakobs – Hauptstück III: Die Geschichte Dinas (3/7)

    Das Kapitel „Dinas Geschichte“ greift Geschichte von der Zerstörung der Stadt Schekem und die Ermordung ihrer Bewohner auf. Nach Genesis 33,18 bis 35,05 waren daran die Söhne Jaakobs nicht unbeteiligt. Ausgangspunkt war das Versprechen, Dina, die Tochter Jaakobs und seiner zweiten Frau Lea, nur dann zu verheiraten, wenn der Bräutigam und alle anderen Einwohner Schekems sich beschneiden lassen würden.
    Der Schafhirte Jaakob ist reich geworden. Mit seinen beiden Frauen Rahel und Lea und ihren Mägden hat er eine große Familie gegründet. Nachdem er den Dienst bei seinem Onkel und Schwiegervater Laban quittierte, macht er sich auf den Weg ins Land seines Vaters Isaaks. Er hofft, dass alle ihm seinen Betrug verzeihen mögen. Auf dem Weg dorthin siedelt er vor den Toren Schekems, einer zivilisierten, den verfeinerten Genüssen zugeneigten und somit leicht dekadenten Stadt, die den wilden Stamm der reichen Schafherdenzüchter vorsichtig beäugt. Bei einem Fest zur Errichtung eines Brunnens vor den Toren der Stadt begehrt Sichem, der Sohn des Stadtoberhaupts, Jaakobs einzige Tochter Dina zur Frau. Sie ist zwar keine Schönheit, aber von großer erotischer Anziehung. Das hätte der Beginn des Friedens zwischen den Völkern werden können. Aber die Söhne Jaakobs sind von Anbeginn auf Plünderung aus. Über einen Vertrauensbruch beim Eheversprechen gelingt es seinen Söhnen, die Bewohner Schekems wehrlos zu machen und grausam niederzumetzeln. Der städtische Reichtum eignet sich Jaakobs Familie an. Und Dinas Kind von Sichem, es wird ausgesetzt auf dem Weg zurück ins gelobte Land.Bevor die ungehemmten Triebe domestiziert werden, ist jedoch aus der Zeit der Unkultiviertheit und des Leidens zu erzählen. Manns räsonierende Erzählerfigur, den das Hörspiel auf zwei Frauen und einen Mann aufteilt, weiß das nur zu gut.

  • Die Geschichten Jaakobs – Hauptstück IV: Die Flucht (4/7)

    Nach dem Gesetz geht der Segen des Vaters an den ältesten Sohn, der damit als künftiges Religions- und Familienoberhaupt legitimiert ist. Aber Rebekka, Mutter der Zwillinge, liebt Jaakob, den Jüngsten. Sie weiß um seine Klugheit und arrangiert ein magisches Täuschungsmanöver, bei dem Jaakob vom fast erblindete Isaak den Segen erschleicht.
    Um der Rache Esaus zu entgehen, muss Jaakob zu seinem Onkel, Rebekkas Bruder Laban fliehen. Im Exil verliebt er sich in Labans jüngste Tochter Rahel, die spätere Mutter Josephs.
    Thomas Manns Version des Segensraubs zielt auf den emanzipatorischen Akt dessen, was ein Täuschungsmanöver dem Wesen nach bedeutet: Jaakob folgt hier dem Muttergebot, nicht dem Vatergesetz. Um seine hochgestreckten Ziele erreichen zu können, muss er zum Schauspieler werden, sich für seinen Bruder ausgeben, die Rolle des anderen spielen. Identitätsverlust wird so zur Voraussetzung einer Emanzipation gegenüber anscheinend ewig geltenden Gesetzen.
    Das geht nicht ohne Leid. Und dazu gehört die Strategie, sich als Opfer auszugeben anstatt als Handelnder weiblichen oder männlichen Geschlechts. Joseph nutzt hier diese, auch später gegenüber Eliphas (siehe: Hauptstück II) angewandte Strategie. Die Mythen der Bibel mit ihren Geschichten um Jaakob werden bei Thomas Mann zum Ausgangspunkt einer modernen Erfahrung und Lebensweise.

Stand
Autor/in
Thomas Mann