Vor 100 Jahren ist der "Ulysses" von James Joyce erschienen. SWR2 wiederholt aus diesem Anlass seine vielfach gerühmte gut 23-stündige Hörspielfassung in 18 Teilen. Das Meisterwerk der klassischen Moderne läutet eine Zeitenwende in der Romanliteratur ein: In 18 Kapiteln wird aus verschiedenen Perspektiven und über zahlreiche Stilregister ein Tag in Dublin erzählt.
Alle 18 Folgen können bis zum 16. Juni 2023 („Bloomsday“) auf dieser Seite, in der ARD Audiothek und in der SWR2 App angehört werden.
Der Roman
"Ulysses" von James Joyce ist der Roman der literarischen Moderne par excellence. Joyce schildert hier, aufgefächert in 18 formal unterschiedlich angelegte Kapitel, einen Tag im Leben des Dubliner Annoncenakquisiteurs Leopold Bloom und des jungen Künstlers Stephen Dedalus. Der Roman, der am Donnerstag, den 16. Juni 1904 spielt, ist zugleich ein Roman der ganzen Welt. Er spannt den Bogen von Homers "Odyssee" am Anfang der abendländischen Literatur bis zum Leben der Dubliner Bürger Anfang des 20. Jahrhunderts. Dabei sind im Text – durch Anspielungen, Zitate oder Parodien in den Erzählerparts, Monologen, Dialogen und mehrstimmigen Szenen – Mythologie und Geschichte, Philosophie, Literatur, Musik, Kunst und Wissenschaft seit der Antike enthalten. Sein literaturgeschichtlicher Stellenwert und die ihn überwuchernde Sekundärliteratur verhindern oft eine wirkliche Lektüre. Der "Bloomsday" hingegen, dieser Donnerstag des 16. Juni 1904, ist als Chiffre der Weltliteratur auch in Deutschland vielen Menschen bekannt; schließlich steht der "Ulysses" in zahlreichen Bücherschränken, wenn auch zumeist ungelesen oder nur angelesen. Es wird Zeit, dieses Meisterwerk für den deutschen Sprachraum wieder lebendig werden zu lassen – mit all seinem Humor und Witz, seiner sprachlichen Schönheit und Musikalität, seinen Geschichten und seiner Thematisierung von Sexualität, schlicht: seiner Modernität.
Das englische Original kann nur derjenige erschließen, der des Englischen wirklich mächtig ist. Der "Ulysses" gilt als schwierig – vor allem für den deutschen Sprach- und Rezeptionsraum, trotz der kongenialen Übersetzung von Hans Wollschläger. Und tatsächlich: Seine Bedeutungsebenen, Motiv- und Erzählstrukturen oder ethymologischen Grundierungen zu erschließen und den Joyceschen Stilexperimenten gerecht zu werden, scheint nur etwas für Eingeweihte mit Geduld und entsprechendem Handapparat. Dieses Erscheinungsbild trügt jedoch. Es bietet sich durchaus eine Lesart an, die den "Ulysses" einem größeren Publikum nahe bringt, ohne seinen Gehalt und seine Komplexität zu unterschlagen. Bertolt Brecht weist den Weg auf lakonisch-hintergründige Weise: "Das Buch habe ich von ganz intelligenten Lesern wegen seines Realismus loben hören (…) ich gestehe, dass ich über den ‚Ulysses‘ (trotz seiner zahlreichen Manierismen) beinahe ebenso gelacht habe als über den 'Schweijk', und für gewöhnlich lacht unsereiner nur bei realistischen Satiren." Ob Joyce eine Satire geschrieben hat, sei dahingestellt. Brecht betont den Realismus und den Unterhaltungswert des Romans. Er stellt den "Ulysses" wieder vom Kopf auf die Füße, auf den Boden seines Realismus.
Die Hörspielfassung
Brechts ästhetisches Urteil übernimmt die SWR-Hörspieladaption als Zielvorgabe: Sie will den Roman erfahrbar machen und die Schicht der Bedeutungsschwere abtragen, ohne dass er zu leicht wird, aber auch ohne in weihevollem Purismus zu erstarren. Diese Aufgabe kann, vielleicht besser als eine Lesung des vollständigen Textes, eine Hörspielfassung erfüllen. Ihre Mittel: inszenatorische Verlebendigung und Dechiffrierung, Staffelung des akustischen Raumes zum Verdeutlichen von Erzählhaltungen und -perspektiven, Vernetzung der Motive. Umsetzbar ist dies über eine akustische Bearbeitungsstrategie, Schauspieler in der Rolle und als Erzähler sowie die Inszenierungsmittel von Musik und Geräusch. Es versteht sich von selbst, dass diese Hörspielfassung dabei der Vorgabe folgt: Am Originaltext entlang; kein Wort, das nicht von Joyce in der Übersetzung von Hans Wollschläger ist. Für das Projekt konnte als Bearbeiter und Regisseur Klaus Buhlert gewonnen werden, der für die ARD zahlreiche Hörspiel-Großproduktionen erfolgreich umgesetzt hat, zuletzt 2009 die 20-stündige Fassung von Homers "Ilias" in der Neuübertragung von Raoul Schrott. Buhlert legte den "Ulysses" als Hörspiel auf 18 Teile à 41 bis 110 Minuten an. 18 unterschiedliche Hörspiele sind entstanden. Buhlert folgt damit den 18 Roman-Kapiteln, von denen jedes einen eigenen Stil und eine eigene Sprache aufweist.
Die SWR/DLF-Hörspielfassung hat sich für Kürzungen entschieden. Sie sind auf eine Verdeutlichung nach verständnis- und spannungsdramaturgischen Überlegungen angelegt, die aus dem Text sich entwickeln und die unumkehrbare Linearität wie Eigenständigkeit des Akustischen berücksichtigen. Der Kürzungsfaktor variiert so je nach Kapitel, um die literarische Komplexität in eine akustische Wirklichkeit zu übertragen. Bei zwei Kapiteln – "Skylla und Charybdis" und "Die Rinder des Sonnesgottes" – erschien uns dies nur über ein starke Verdichtung möglich.
Manfred Hess, Chefdramaturg SWR Hörspiel