Karl-Sczuka-Preis 2013

Wissenswertes zu Linz und Lunz

Stand
Autor/in
Oswald Eggers

von Marcel Beyer

Oben, unten, außen, innen
Lenz »dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein«, so Büchner, und: »dann wühlte er in sich, fastete, lag träumend am Boden«. Ein Regenwurm mit dem Drang zu Höherem würde seinen Blick auf die Welt kaum anders zum Ausdruck bringen.
Dazu Linz und Lunz: »Ich bin nicht draußen, ich bin auch drinnen nicht immer.«

Für immer
Als Marcel Prousts Schriftsteller Bergotte im Museum vor der Ansicht von Delft zusammengebrochen ist und von Aufsehern wie Besuchern umstanden wird, heißt es: »Er war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen?« Zu Beginn von Linz und Lunz jedoch fragen drei Stimmen, einander ins Wort fallend: »Muß ich dran glauben, wenn man sagt, ich bin tot? Richtig tot. Für immer. Wer kann das sagen? Linz und Lunz? Lenz?«
Wenig später, so der Höreindruck, werden alle drei (oder vier) vom Gestein verschluckt.

Homophonie, 1
Mulde: Bodensenke, mould: Ackererde.

Zeit, 1
Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. »Den 20. Jänner«, erzählen Linz, Lunz und Lenz, »wurde ich erschlagen aufgefunden.« Die Sätze, die sie im folgenden dreistimmig untereinander aufteilen, führen eine drastisch zugerichtete Leiche vor: »An der Stirn war der Schädel zertrümmert und nach innen eingedrückt«, »am Stirnlappen ein bolzenlanger Riß«, und: »Durchs Siebbein bis zur mittleren und hinteren Schädelgrube reichte der Bruch.«
Erstaunlich ist dabei nicht nur, daß sie post mortem zu erzählen beginnen, sondern auch, welche Zeitspanne sie im Verlauf weniger Sätze durchmessen: Vom 20. Januar 1778, als Jakob Michael Reinhard Lenz nach einem Fußmarsch durch die Vogesen bei Familie Oberlin in Waldersbach eintrifft, bis zum 19. September 1991, als zwei Bergwanderer am Similaun in einer Felsmulde unterhalb des Tisenjochs auf eine Leiche stoßen, deren Schädel im Bereich des rechten Augenrandes eine Fraktur der Schädelnaht zwischen Jochbein und Stirnbein aufweist.
Damit aber reichen Linz und Lunz zugleich auch wieder weit in die Vergangenheit zurück, nämlich ungefähr fünftausendzweihundertfünfzig Jahre, als ›Ötzi‹ auf seinem Gang durchs Gebirge, vermutlich während einer Rast, tödlich von einem Pfeil getroffen wurde, woraufhin er sich bei einem Sturz die Schädelfraktur zuzog.

Ernährung
»Er ist ein Wurm, ein Sandkorn in der Welt«, heißt es 1736 bei Albrecht von Haller, dem Dichter der Alpen, über den Menschen. Kann aber der Wurm das Sandkorn sein, das Sandkorn Wurm?
Linz und Lunz, dieses Hörspiel von Oswald Egger und Iris Drögekamp, ernährt sich von Oswald Eggers Buch Euer Lenz. Umgekehrt allerdings gewinnt man beim Hören und Mitlesen der Textvorlage den Eindruck, das Buch Euer Lenz habe sich zunächst das Hörspielmanuskript Linz und Lunz einverleibt, ehe es, Iris Drögekamps Imaginationskraft anvertraut, zum akustischen Geschehen werden konnte. Ohne Euer Lenz kein Linz und Lunz, und doch ist es Linz und Lunz, das, als akustisches Ereignis, ein Gangsystem gräbt in die stille Lektüre von Euer Lenz.

Das Sausen des Erdreichs
Die in der Epidermis des Regenwurms vorhandenen Sinneszellen lassen sich schwerlich mit Augen vergleichen. Wie nimmt er das Sandkorn wahr, die ihn umgebende Ackererde, wie das seinen Weg versperrende Gestein?
An diesem Punkt könnte, was Linz und Lunz angeht, von der ›Körnigkeit der Stimme‹ die Rede sein.

Drei oder vier Figuren
Lenz, Linz, Lunz und Lonz (bei dem es sich jedoch womöglich nur um einen aus dem Livischen übersetzten Lunz handelt – wobei die Zielsprache so dunkel bleibt wie das Erdreich, durch das er sich fressend, umgrabend, Mutterboden schaffend schlängelt).

Das Livische als Muttersprache
»Mein Name (ich heiße Lonz) ins Livische übersetzt, behaupte ich, ist Lunz«, heißt es in Linz und Lunz.
Im Juni 1779 wird Jakob Michael Reinhold Lenz von seinem Bruder nach Riga gebracht, wo der Vater die Stellung des Superintendenten einnimmt. Zehn Jahre später, Lenz hat Dorpat und Sankt Petersburg gestreift und hält sich inzwischen in Moskau auf, entsteht eine livische Übersetzung des Vater Unser, das erste Schriftstück in livischer Sprache. Linz und Lunz dazu: »Zehn Jahre zähle ich nach nur zehn Jahren.«
Die Zahl livischer Gedichte wird auf insgesamt dreihundert geschätzt. Die Existenz dieses – wenn auch vergleichsweise kleinen – Korpus wird auf den Umstand zurückgeführt, daß sich Gedichte, anders als andere Texte, leicht musikalisch umsetzen ließen.
Bislang gaben Linguisten die Zahl der lebenden livischen Muttersprachler mit »fünf bis fünfundzwanzig« an, keiner von ihnen in Livland heimisch. Einem Artikel in The Times vom 5. Juni 2013 zufolge jedoch starb die letzte monolingual mit Livisch aufgewachsene Muttersprachlerin, die aus Vaide gebürtige, 1947 nach Kanada ausgewanderte Grizelda Kristina am 2. Juni 2013 im Alter von hundertunddrei Jahren. Sie hatte an einem 2000 erschienenen Livisch-Lehrbuch mitgearbeitet. Demnach existiert das Livische heute nur noch als Zweitsprache.

Trotz
»Und mit emporgesträubtem Haupt, (o Greuel der Menschheit!) spottet der krümmende Wurm der Ferse die ihn zerquetschte«, heißt es in Die Landplagen von Jakob Michael Reinhold Lenz.

Schweigen in Livland
Zur Erinnerung: Die wortkargste Szene des sonst nicht eben um Worte verlegenen Paares Vater und Mutter Ubu spielt in der schneebedeckten Provinz Livland. Die Ubus sind mit ihrem Gefolge auf der Flucht und verschwinden nach vier Sätzen irgendwann »in der Ferne«.
»Zumeist bin ich von erstaunlicher Geschwätzigkeit. Nur manchmal (schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf) und ich verstumme«, heißt es, Rainer Maria Rilkes Panther fressend, verdauend, verwandelnd, in Oswald Eggers Euer Lenz. Was sich als unsichtbare, von Iris Drögekamp gleichwohl mitgelesene Regieanweisung in Linz und Lunz verstehen läßt.

Das Livische in Linz und Lunz
Als wollten sie der letzten mit Livisch aufgewachsenen Muttersprachlerin Grizelda Kristina ein Denkmal setzen, begleiten drei weibliche Stimmen die Erzählungen von Linz und Lunz mit der Artikulation sämtlicher Silben der ›Modularen Tabulatur der Geräuschverbwurzeln des baltischen Spachareals‹. Sie punktieren, kommentieren, unterbrechen – wobei peinlich genau darauf geachtet wird, beim Hörer keinerlei semantische Illusion zu wecken. Dennoch wirken die Stimmen, die Silben auf uns vertraut.
Möglich, so haben die Ohren von Jakob Michael Reinhold Lenz das Livische aufgenommen: Als Ausspracheübungen eines von der Übersetzung ins Livische besessenen Geistlichen, der erstaunlicherweise sein eigener Vater war.

Die Silbe »hum«, 1
Ohne Humanismus kein Alpinismus. Als Sitz der Dämonen und Sagenorte sind die Alpengipfel bis ins ausgehende Mittelalter tabu. 1518 ersteigt Joachim Vadian den mons fractus (gebrochener Berg, heutiger Name: Pilatus – Pontius Pilatus soll hier seine letzte Ruhestätte gefunden haben) und erschließt damit der Naturforschung ungeheure neue Areale, die es zu erkunden gilt. Der Mont Blanc wird 1786-87 erstmals von einer Gruppe um den Genfer Naturforscher Horace Bénédict de Saussure (ihm haben wir die Etablierung des Begriffs ›Geologie‹ zu verdanken) bestiegen, den Urgroßvater Ferdinand de Saussures. Es wäre also denkbar, daß es ohne den Alpinismus nie eine Lehre von den Zeichen gegeben hätte.

Homophonie, 2
Als ›Segment‹ bezeichnet man in der Linguistik den analysierten Teil einer sprachlichen Äußerung: Laut, Buchstabe, Satzglied, Gespräch usw. Wer eine Grammatik entwickeln will, muß zunächst das Segmentieren beherrschen. Auch der Körper des Regenwurms besteht aus Segmenten. Die Faszination des Regenwurms rührt aus der – kindlichen – Beobachtung, daß man ihn segmentieren kann, ohne ihn damit zu töten. Der segmentierte Regenwurm bewegt sich als verdoppelte Existenz fort.
Graphische Darstellungen der Silbenstruktur in der Phonetik zeigen verblüffende Ähnlichkeit mit dem Gangsystem eines Regenwurms unter der Erdoberfläche.

Zeit, 2
Eine kurze Zeitspanne liegt zwischen dem 19. Februar 1837, als Georg Büchner in Zürich stirbt, und dem 1. November 1837, als Charles Darwin vor der Geological Society of London einen Vortrag über die Regenwürmer hält.

Die Hörfähigkeit des Wurmes, 1
»Würmer besitzen keinerlei Gehörsinn«, schließt Charles Darwin, nachdem er die in seinem Arbeitszimmer in Töpfen lebenden Regenwürmer nacheinander folgenden Geräuschen ausgesetzt hat: den schrillen Tönen einer Metallpfeife, den tiefen Tönen eines Fagotts, dem Geschrei des Naturforschers (oder seiner Kinder?). Selbst als Darwin einen Topf mit Regenwürmern dicht beim Klavier abstellte und das Instrument so laut wie möglich spielte, »blieben sie vollkommen ruhig«.

Erschütterungen
Wenn er auch nicht auf die Erschütterung der Luft durch Schallwellen reagiere, so Darwin, zeige der Regenwurm doch die heftigste, unmittelbare Reaktion bei der Erschütterung von Feststoffen, also des ihn umgebenden Erdreichs.

Mehrstimmigkeit
Regenwürmer lassen sich teilen. Stimmen lassen sich aufteilen. Während eines Aufenthalts in Winterthur im November 1777 zeigt Jakob Michael Reinhold Lenz erstmals Anzeichen einer paranoiden Schizophrenie.

Gier
»Sind Vögel, denen das Messer die Kehle berührt, auf Würmer noch gierig?« fragt Jakob Michael Reinhold Lenz in Die Landplagen.

Die Hörfähigkeit des Wurmes, 2
»Komm her, Wurm«, sagt der Riese zum Trommler im Märchen Der Trommler der Brüder Grimm. In Oswald Eggers Euer Lenz heißt es dazu: »Er springt vor den Trommeln hin und her.«

Bürgerlicher Roman und Farbensehen
Die livische Flagge – Grün, Weiß, Blau – erzählt eine Geschichte, mit der sich jeder Live identifizieren kann.

Erdalter
Das stratigraphische Prinzip interessiert den Regenwurm bei seiner Arbeit nicht im Geringsten.

Zeit, 3
»Ich zog als Wind um um den Zeithof«, heißt es in Oswald Eggers Euer Lenz. Bei »Zeithof« handelt es sich sowohl um eine Unterstreichung Paul Celans in Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins als auch um den Namen einer Diskothek in Eberstalzell in Oberösterreich.

Regenwürmer im deutschsprachigen Raum
Was folgt aus der Tatsache, daß in Österreich vierzig, in Deutschland lediglich neununddreißig, in der Schweiz dagegen ganze sechzig Arten von Regenwürmern heimisch sind?

Die Silbe »hum«, 2
Ohne Regenwürmer kein Humus. Oder, wie es in Linz und Lunz heißt: »Die schlimmsten Würmer der Erde wohnen unter meiner Rinde.«

Oberfläche und Gegenstand
Jeder an der Oberfläche liegende Gegenstand wird untergraben, beobachtet Charles Darwin, und er hätte es beim Hören von Linz und Lunz genauso gut feststellen können wie angesichts der Tätigkeit der Regenwürmer.

Zitabler Satz
Oswald Egger und Iris Drögekamp verstehen es, mit meisterlicher Eleganz Georg Büchners Lenz und Charles Darwins vier Jahrzehnte währende Erforschung der Regenwürmer akustisch so ineinander zu verschränken, als sei das eine aus dem anderen nicht nur historisch und motivisch, sondern auch klanglich hervorgegangen.

Raum
Wie Büchners Lenz, wie jeder Regenwurm dehnen sich Linz und Lunz im Raum aus, in der Zeit. Wie jedes Hörspiel dehnt sich Linz und Lunz in der Zeit aus, im Raum – nämlich im Spektrum meines von keinem auf eine Klaviertastatur einhämmernden, brüllenden Darwin gestörten Hörfeldes. Doch wie wenige Hörspiele vermag Linz und Lunz dank der mittlerweile fast symbiotisch zu nennenden Zusammenarbeit von Iris Drögekamp und Oswald Egger über die konsequente, unnachahmliche Inszenierung des einzelnen Stücks hinaus exemplarisch die Frage nach den Möglichkeiten des Hörspiels heute mitschwingen zu lassen: Vor meinem inneren Ohr entsteht ein Gang- ein Höhlensystem, die Stimmen schlängeln sich, graben sich durch den kompakten Hörraum. Ja, man glaubt zu spüren, wie dieses Stück durch die drei Sprecher, die drei Sprecherinnen hindurchgeht.
Am Ende haben wir, so Charles Darwins Beobachtung, nichts als frischen Humus vor uns.
Da schnellt aus dem Hinterhalt ein Pfeil heran.

Stand
Autor/in
Oswald Eggers