Das poetische Hörspiel Oswald Eggers kreist um das Werk und Leben des J.M.R. Lenz in seiner Moskauer Zeit von 1781/82.
Der Autor über sein Werk
Der Livländer Jakob Michael Reinhold Lenz (17511792) wuchs auf im zweisprachigen Raum, der Ort selbst trug zwei Namen: Dorpat (deutsch) und ebenso sein Anagramm: Tarbot (livisch). Man spricht fließend: lettisch, estnisch und — gebrochen — deutsch. Dementsprechend kommen auch im Stück drei gleichsam koexistierende Zustände zu sich, zur Sprache zusammen, in einander (häufig) überlagernden, (unaufhörlich) immerzu intermittierenden und (fortdauernd) iterierenden, (währenddessen) zurückweichenden und (stimmig) wieder untereinander einholenden Perioden, schwankenderen Phasen und oft trollatisch wechselständigen Unruhen und Tonlagen.
Wie ein von Bülten und Palsen gedrupft buckeliges Ungelände mit verhökerten Horsten und Windsandsenken und knuppigen Bröckel-, fast Kies-Drumlins, Inversions-Holme und Wort-Motten, wie Gnomen graues Gestein, Felsflächen und Schrammen: alles Wink-schliffe Riß- und Geschiebeformen, mit lettischen Findlings-Lehnwörtern im Livischen durchsetzt, esthnische phrasierte Flinstänze und Lieder aus gestanzten Wörtern, die auf die Welt vergessen sind, nur unbedingt beides, auftauchen und erscheinen. Was sie sagen bzw. selbstvergessen tun, aber kein Ding davon wüssten zu erinnern, nicht ununterdessen — umständehalber mitunter allenthalben Bedingungen: ist das Stück? Eins?
Schon die baltisch areallinguistische Sprach-Ungemeinschaft bildet, verbindet und formiert die arealen Areale ihrer Wind-sedimenten Landschaft, wo Worte (wie Blumen) blühen aus den Dünen und treiben (-stücke, wie Wolken, aus der Luft gegriffen), Flick-Wortfetzen in Lettisch und Estnisch inzwischen: Der eingedeutschte Dichter Lenz erlernt („Luftgeistersprache") sprechen auf dem Brodelboden eines nichtdeutschen Fundaments aus Trümmersprachen, strukturdurchsetzt von Abschellerungen und Splitt-Silben zerscherbelten Satzwort-Koppelungen und Wortsatz-vergabelten syntaktischen Netzen.
Ein „Areal-Abecedarium im Livland-deutschen Wortlaut"*, d.i. livisch-deutsche Wörter aus der Lebenszeit des späten Lenz sowie die suffixlosen Laut- und Geräuschwurzelverben als „Herde der Verkehrung" (Lenz) verschränkt sich mit arealen Wortaggregaten aus eigenlos verstehensfreiem Deutsch. (Beispiel: alfanzen Baruschnik, Czekan, Deicht und Deistel, einkowern, Fallblan, Hackel-werk, iandern, Mälzlis marachen, Ndrig, Pado-cken-Pagler, Quaddel-Jahn, Sachtliken, Tannaw, Wadmal, Yunnan, Zehnder)
Die unentwegt entstehende Partitur der Vorgänge bringt dabei die Einsätze im Kanon regellos allnea, die Direktiven der aus- und ineinander Redenden wirken nicht-distrikt, sie öffnen Ösenrund Bezirke, in denen ihre Stille kreist. Nicht der förmlich regelmäßig wiederkehrende Ton im Ton allein entwickelte die Rhythmik des Stückes, sondern mit ihm zugleich die noch vielgestaltigere Stille, Pausen und Nichtpausen verschränken einander mundförmig, unumgänglich und umgehend, wie Vorgänge, die nach Und-ständigen Perioden in sich selber übergingen und Wort für Wort versagen davon, wortwörtlich: das nichtdeutsche Wort „Grenze" stammt aus ebendiesem Sprachareal — als Fremdwort („graniza") -, und meint „die deutsche Eiche".
Man müßte quasi die Wortgrenzen einsilbig fällen, den ganzen Wald aus Intervallen, damit die Grenzen weg- und auseinanderfallen, Wegnetze breschend, Schleichpfade anverwandelnd und Schneisen: dorthin, wo noch und noch Lied und Licht sich verabschiedend wiegen und zu singen sind?
Von den Lautverben wurde die Untergruppe der Geräuschverben untersucht, mit dem Ziel, ihre Musterhaftigkeit hörbar zu machen, Heischesätze, ein Fries aus Frikativen, ihr interimsprachliches Intonationsmuster krakeeliert die einsilbigen Ideophone suffixlos zu onomatopoetischen Einsprengseln im Atem-Korn-Konglomerat talger Oberton-Gnome. Und die Tabulatur aus Geräuschverb-verwurzelten Beziehungslinien, verkündet als eine Laut-Netzhaut das Ganze Um und Auf in Gänze, den Lenz, doch nicht ohne das Land in sich unaufhörlich zu verkünden, d.i. hörbar glänzend zu beerben.
Die phontaktischen, unbeständig changierenden Grenzen zwischen der deutschdeutschen Restsprache und den slavisch-baltischen, ja, Wortwechselbälgern sind, wie Unlinien ineinander auf der einen Hand, die unter den je anderen der beiden verschieden Linz und Lunz sind und tun. Anverwandelt als Akustisches Krakelee, schlucklaute Silbenknäuel, labiale Zungen- und Mundwurzellaute, Räuspern, Schmatzen, das Atmen und Schnalzen komplexer Wort-für-Wort-Aggregate und Zusatz-Strukturen mit Silbenschnitt-lispelnden Ton-Koppelungen „und und und", umgesetzt durch Klang-Interventionen (wie „knirk, krk, pak, pliuk, skriuk, svip, tink, szlark, tsurk") der „Maulwerkerinnen".
Wort für Wort erfährt dadurch eine springlebendig purzelnde Darstellung der „Idee des Lenzens" in Weltgestalt, fast metrisch a-taktiert versetzte Einzelereignisse bald und oft unvertauter Laute.
Jedes Wort für Wort verspricht, ist und hat seine Zeit. Die Gegenstände bleiben nicht umgeformt, umrandet und ausgestanzt durch und durch, die Sprache, vielmehr Schemen, Schatten und Konturen treten in Erscheinung, umrissen von uneinsichtigen Ideophonen davon, welche den bloßen Äußerungen ihre innere Kindheitsform entsinnen: jede Welt in der Welt mündete aus einer Kinderwelt von A bis Z, von Kujen, Riegen und Saden verhäufte Schwaden in den Sielen (das Livland des 18. Jahrhunderts): in der Tatform schlafendere Wiesen, „untergegangene" und bedeutungs-leere, wortförmig plötzliche, sofort wieder zerfallende, geborgte Iktus-Silben disparat (von „abängstigen" etwa bis „Zibchen"). Eine hellfarbige Glossen- und Stoßton-Prozession in Form von Worten und Formen ohne Worte unzusammengehöriger Namen und Dinge, rhythmisiert durch Wörter und Sachen, zwischen denen sich die Grenzen- und Ideengeschichte der innerdeutschen Grenzen des Verstehens ohne Fäden zieht.
Die Stück-Metriken der Partitur, unzusammen mit Zäsuren, bilden die andauernd rhythmische Inversion der stromernden Sprach- und Fließgefüge ineinander aus, um die das ganze Stück ganz, auf Lücke gesetzt, in eben der Weise zerredet erscheint wie die Schwebungen im zeitleeren Wortraum Ton-in-Ton: Die Sätze sind (und springen), wie Steinchen über das Wasser pitscheln (und dort Figuren zeichnen): Die Vorstellung des rumorenden Ohrwurms (ging Lenz durchs Gebirg?) wird wortstill umbetont zu einem jetzt völligeren Gewoge allein selbstverständlicher Worte einer ganzen Menge davon, für die gilt: wo viele Worte sind, ist viel Stille.
Und wenn Lenz einräumt, man solle ihn lieber Linz oder Lunz heißen (Lanz und Lonz), als zu glauben, dass sich im Namen etwas (noch und noch) anderes zutrüge, sagt er dennoch und zugleich, changierend mit Livischem, von einer Niederung,vom öden Niederwald, dass erzwirnt und eine Neigung dafür zeigt, was den Ausschlag gibt: Lants und lonts sind im Livischen tautologisch wie die Waldung, von Stamm zu Stamm vorschreitend, auch). Und lunz ist (istert) das, was seiner Diktion sooft einfloß, luns meint: »quabbeln«. So wie das livische Wort Lenz die »Öse« zum Zuhaken übersetzt, als Kettenglied, Schleife oder Bändchen.
Aber, so wenig aus der Vereinigung ungezählt vieler Silben und Quisquilien mithin ein Kontinuum (insichdicht: dem Sinn nach) entstünde, ebenso wenig lassen sich aus der Vereinigung und Verschmelzung aller Silben ineinander Ununterredungen mit Ungereimtem weder verschränken noch umzuklammern, während die gleichmöglichen aber, die kompossiblen Zustände (vermeintlich) zum Konfigurationsraum aggregierten, um und um Räume ohne Zeit zueinander zusammenzustücken.
Die Sensation des ununterbrochen Stetigen entsteht durch und durch, die Erscheinungen der Erinnerungen währen nur dunkel und ineinanderverworren ereignislos dauernd. Völlig dissoziierende Motive, in überschneidungsloser Parallelität gestaffelt, werden durch einen stets äußernden Kniff der beständigen Eingänge (wie im Sekundentakt der Inversion quasi) oder der spruchlosen Liaisons in Synthesen und Kaskaden des Sagens (auch der Rage)(und in Priameln) zu ahnungslosem Unzusammenhang verflochten; wobei die Fäden, oft und oft verzopft, teilsteils innenwendiger verschwinden, um erst nach dem Dreh der Rede wieder und wieder hervorzutreten: Fäden und Stränge, die sich ersichtlich auflösen und gehörig-unaufhörlich wieder ineinsfügen in strikte Jeweiligkeit des Jetzt, mündlich.
Eben durch ihre Verletzungen in der Zäsur wird die innere Metrik, die aber an sich allein aus Intervallen, Leerstellen besteht, selbstdurchsetzt hörbar. Schon ein Wort, das über und über die Grenzen der Versfüße gestikuliert und endlich springt, perforiert somit das übrige auch: Die Lücke hüpft, nimmt sich selbst aus, stutzt und unterbricht sich selbstverstimmt plötzlich und erzielt damit, dass die Zusammenverbundenheit der rhythmischen Stückchen nicht nur nicht verloren geht, während und indem sie dem Ganzen unterlaufen wirkt, aber überläuft zum Glück, dass es sie gibt.
Die Perioden werden mehr durch wortwörtliche Ballungen addiert als durch ihre syntaktischen und Silben-Gelenke zusammengehalten: Eine insichdichte Folge hervorrufender Worte überspült die implizite Rhythmik der Gliederung, von der nur mehr Residuen sich erübrigen — und Schweige-Reste. — Ist, weiß und bleibt Linz und Lunz die Frage nach dem Deutschen eine deutsche Frage?
*Oswald Egger, Euer Lenz. Suhrkamp Verlag 2013
Hörspiel von Oswald Egger
Sprecher: Jörg Pohl, Wolf-Dietrich Sprenger, Martin Rentzsch und die Maulwerkerinnen Ariane Jessulat, Katarina Rasinski und Steffi Weismann
Regie: Iris Drögekamp
Dramaturgie: Manfred Hess
Produktion: SWR 2013
Sendung: 07.03.2013
45 Min.
Wettbewerb 2013 und Jurybegründung
In diesem Jahr wurden 68 Wettbewerbsbeiträge von Bewerbern aus 18 Ländern eingereicht. Die Preisverleihung fand am 20. Oktober als öffentliche Veranstaltung im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2013 statt.
Über die Zuerkennung der Preise hat am Donnerstag, 18. Juli 2013, in Baden-Baden eine unabhängige Jury unter Vorsitz der ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina Weiss entschieden.
"Oswald Egger gelingt mit dem Hörstück 'Linz und Lunz' eine vielstimmige Hommage an den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz. Dabei begibt sich Egger in den Sprach- und Lebensraum von Lenz, der deutschsprachig im Livland der Goethezeit aufgewachsen ist. Egger erforscht den Klangraum der untergegangenen livländischen Sprache und verschränkt sie mit seinem eigenen poetischen Sprechen.
Die Regisseurin Iris Drögekamp inszeniert die Vielstimmigkeit des Textes als musikalischen Raum aus Wörtern. Drei Sprecher und drei Vokalkünstlerinnen (Maulwerkerinnen) erschaffen eine polyphone Sprachlandschaft. Das Hörstück öffnet den Zuhörern einen unerwarteten Imaginationsraum aus Sprachsinnlichkeit und der Kraft der Wörter gegen die Zumutungen des Lebens. Iris Drögekamp und Oswald Egger beschreiten für das Radio neue Wege der akustischen Kunst."
Über den Autor und die Regisseurin
Oswald Egger
Geboren 1963 im südtirolischen Lana/Tscherms (Italien), studierte an der Universität Wien und legte 1992 mit „Wort für Wort“ eine Abschlussarbeit zur Poetik der hermetischen Literatur vor. Er lebt als Schriftsteller auf der Raketenstation Hombroich.
1996 hatte er ein Stipendium der Akademie Schloss Solitude, 1999 im Schloß Wiepersdorf. 2000 war er Writer in Residence der Chinati-Foundation in Texas, 2001 der Villa Aurora in Los Angeles. 2003 war er Gastprofessor für Poetik an der Cornell University in Ithaca/ New York. Seit 2011 ist er Professor für Sprache und Gestalt an der Muthesius Kunsthochschule Kiel. – 1989-1998 war er Herausgeber der Zeitschrift ‚Der Prokurist‘ und der ‚edition per procura‘, seit 2003 gibt er ‚Das böhmische Dorf‘ heraus. Für seine 1993 einsetzenden Buchveröffentlichungen, unter denen in diesem Jahr der Band „Euer Lenz“ vorliegt, erhielt er zahlreiche Preise: Mondsee-Lyrikpreis (1999) George-Saiko-Preis und Clemens-Brentano-Preis (2000), Christine-Lavant-Förderpreis und Förderpreis der Stadt Wien (2001), Lyrikpreis Meran und Preis der ‚Schönsten deutschen Bücher‘ der Stiftung Buchkunst (2002), Christian Wagner-Preis (2006), Peter Huchel-Preis (2007), H.C. Artmann Preis (2008), Oskar Pastior Preis sowie noch einmal die Auszeichnung ‚Das schönsten deutsche Buch‘ der Stiftung Buchkunst (2010).
Bereits 2004 erhielt er den Karl-Sczuka-Förderpreis des SWR für seine vom ORF gesendete Radioproduktion „tuning, stumm“, 2010 erhielt er gemeinsam mit Iris Drögekamp den Karl-Sczuka-Preis für das SWR-Hörstück „Ohne Ort und Jahr“.
Iris Drögekamp
Geboren 1967 in Hagen/Westfalen, studierte in Hamburg und lebt als Funkregisseurin in Baden-Baden. Seit 2007 nimmt sie außerdem Lehraufträge für Hörspiel bzw. Digitalmedien und Klang wahr an der HfG Karlsruhe, an der Hochschule Darmstadt, an der Hochschule der Medien Stuttgart, an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und an der Muthesius Kunsthochschule Kiel.
Für ihre zahlreichen Radioproduktionen wurde sie mehrfach ausgezeichnet: Deutscher Hörbuchpreis (2006), Zonser Hörspielpreis (2007), RIAS-Radiopreis (2008), Europäischer CIVIS Radiopreis und Deutsch-französischer Journalistenpreis (2012).
Wissenswertes zu Linz und Lunz
von Marcel Beyer
Oben, unten, außen, innen
Lenz »dehnte sich aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hinein«, so Büchner, und: »dann wühlte er in sich, fastete, lag träumend am Boden«. Ein Regenwurm mit dem Drang zu Höherem würde seinen Blick auf die Welt kaum anders zum Ausdruck bringen.
Dazu Linz und Lunz: »Ich bin nicht draußen, ich bin auch drinnen nicht immer.«
Für immer
Als Marcel Prousts Schriftsteller Bergotte im Museum vor der Ansicht von Delft zusammengebrochen ist und von Aufsehern wie Besuchern umstanden wird, heißt es: »Er war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen?« Zu Beginn von Linz und Lunz jedoch fragen drei Stimmen, einander ins Wort fallend: »Muß ich dran glauben, wenn man sagt, ich bin tot? Richtig tot. Für immer. Wer kann das sagen? Linz und Lunz? Lenz?«
Wenig später, so der Höreindruck, werden alle drei (oder vier) vom Gestein verschluckt.
Homophonie, 1
Mulde: Bodensenke, mould: Ackererde.
Zeit, 1
Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. »Den 20. Jänner«, erzählen Linz, Lunz und Lenz, »wurde ich erschlagen aufgefunden.« Die Sätze, die sie im folgenden dreistimmig untereinander aufteilen, führen eine drastisch zugerichtete Leiche vor: »An der Stirn war der Schädel zertrümmert und nach innen eingedrückt«, »am Stirnlappen ein bolzenlanger Riß«, und: »Durchs Siebbein bis zur mittleren und hinteren Schädelgrube reichte der Bruch.«
Erstaunlich ist dabei nicht nur, daß sie post mortem zu erzählen beginnen, sondern auch, welche Zeitspanne sie im Verlauf weniger Sätze durchmessen: Vom 20. Januar 1778, als Jakob Michael Reinhard Lenz nach einem Fußmarsch durch die Vogesen bei Familie Oberlin in Waldersbach eintrifft, bis zum 19. September 1991, als zwei Bergwanderer am Similaun in einer Felsmulde unterhalb des Tisenjochs auf eine Leiche stoßen, deren Schädel im Bereich des rechten Augenrandes eine Fraktur der Schädelnaht zwischen Jochbein und Stirnbein aufweist.
Damit aber reichen Linz und Lunz zugleich auch wieder weit in die Vergangenheit zurück, nämlich ungefähr fünftausendzweihundertfünfzig Jahre, als ›Ötzi‹ auf seinem Gang durchs Gebirge, vermutlich während einer Rast, tödlich von einem Pfeil getroffen wurde, woraufhin er sich bei einem Sturz die Schädelfraktur zuzog.
Ernährung
»Er ist ein Wurm, ein Sandkorn in der Welt«, heißt es 1736 bei Albrecht von Haller, dem Dichter der Alpen, über den Menschen. Kann aber der Wurm das Sandkorn sein, das Sandkorn Wurm?
Linz und Lunz, dieses Hörspiel von Oswald Egger und Iris Drögekamp, ernährt sich von Oswald Eggers Buch Euer Lenz. Umgekehrt allerdings gewinnt man beim Hören und Mitlesen der Textvorlage den Eindruck, das Buch Euer Lenz habe sich zunächst das Hörspielmanuskript Linz und Lunz einverleibt, ehe es, Iris Drögekamps Imaginationskraft anvertraut, zum akustischen Geschehen werden konnte. Ohne Euer Lenz kein Linz und Lunz, und doch ist es Linz und Lunz, das, als akustisches Ereignis, ein Gangsystem gräbt in die stille Lektüre von Euer Lenz.
Das Sausen des Erdreichs
Die in der Epidermis des Regenwurms vorhandenen Sinneszellen lassen sich schwerlich mit Augen vergleichen. Wie nimmt er das Sandkorn wahr, die ihn umgebende Ackererde, wie das seinen Weg versperrende Gestein?
An diesem Punkt könnte, was Linz und Lunz angeht, von der ›Körnigkeit der Stimme‹ die Rede sein.
Drei oder vier Figuren
Lenz, Linz, Lunz und Lonz (bei dem es sich jedoch womöglich nur um einen aus dem Livischen übersetzten Lunz handelt – wobei die Zielsprache so dunkel bleibt wie das Erdreich, durch das er sich fressend, umgrabend, Mutterboden schaffend schlängelt).
Das Livische als Muttersprache
»Mein Name (ich heiße Lonz) ins Livische übersetzt, behaupte ich, ist Lunz«, heißt es in Linz und Lunz.
Im Juni 1779 wird Jakob Michael Reinhold Lenz von seinem Bruder nach Riga gebracht, wo der Vater die Stellung des Superintendenten einnimmt. Zehn Jahre später, Lenz hat Dorpat und Sankt Petersburg gestreift und hält sich inzwischen in Moskau auf, entsteht eine livische Übersetzung des Vater Unser, das erste Schriftstück in livischer Sprache. Linz und Lunz dazu: »Zehn Jahre zähle ich nach nur zehn Jahren.«
Die Zahl livischer Gedichte wird auf insgesamt dreihundert geschätzt. Die Existenz dieses – wenn auch vergleichsweise kleinen – Korpus wird auf den Umstand zurückgeführt, daß sich Gedichte, anders als andere Texte, leicht musikalisch umsetzen ließen.
Bislang gaben Linguisten die Zahl der lebenden livischen Muttersprachler mit »fünf bis fünfundzwanzig« an, keiner von ihnen in Livland heimisch. Einem Artikel in The Times vom 5. Juni 2013 zufolge jedoch starb die letzte monolingual mit Livisch aufgewachsene Muttersprachlerin, die aus Vaide gebürtige, 1947 nach Kanada ausgewanderte Grizelda Kristina am 2. Juni 2013 im Alter von hundertunddrei Jahren. Sie hatte an einem 2000 erschienenen Livisch-Lehrbuch mitgearbeitet. Demnach existiert das Livische heute nur noch als Zweitsprache.
Trotz
»Und mit emporgesträubtem Haupt, (o Greuel der Menschheit!) spottet der krümmende Wurm der Ferse die ihn zerquetschte«, heißt es in Die Landplagen von Jakob Michael Reinhold Lenz.
Schweigen in Livland
Zur Erinnerung: Die wortkargste Szene des sonst nicht eben um Worte verlegenen Paares Vater und Mutter Ubu spielt in der schneebedeckten Provinz Livland. Die Ubus sind mit ihrem Gefolge auf der Flucht und verschwinden nach vier Sätzen irgendwann »in der Ferne«.
»Zumeist bin ich von erstaunlicher Geschwätzigkeit. Nur manchmal (schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf) und ich verstumme«, heißt es, Rainer Maria Rilkes Panther fressend, verdauend, verwandelnd, in Oswald Eggers Euer Lenz. Was sich als unsichtbare, von Iris Drögekamp gleichwohl mitgelesene Regieanweisung in Linz und Lunz verstehen läßt.
Das Livische in Linz und Lunz
Als wollten sie der letzten mit Livisch aufgewachsenen Muttersprachlerin Grizelda Kristina ein Denkmal setzen, begleiten drei weibliche Stimmen die Erzählungen von Linz und Lunz mit der Artikulation sämtlicher Silben der ›Modularen Tabulatur der Geräuschverbwurzeln des baltischen Spachareals‹. Sie punktieren, kommentieren, unterbrechen – wobei peinlich genau darauf geachtet wird, beim Hörer keinerlei semantische Illusion zu wecken. Dennoch wirken die Stimmen, die Silben auf uns vertraut.
Möglich, so haben die Ohren von Jakob Michael Reinhold Lenz das Livische aufgenommen: Als Ausspracheübungen eines von der Übersetzung ins Livische besessenen Geistlichen, der erstaunlicherweise sein eigener Vater war.
Die Silbe »hum«, 1
Ohne Humanismus kein Alpinismus. Als Sitz der Dämonen und Sagenorte sind die Alpengipfel bis ins ausgehende Mittelalter tabu. 1518 ersteigt Joachim Vadian den mons fractus (gebrochener Berg, heutiger Name: Pilatus – Pontius Pilatus soll hier seine letzte Ruhestätte gefunden haben) und erschließt damit der Naturforschung ungeheure neue Areale, die es zu erkunden gilt. Der Mont Blanc wird 1786-87 erstmals von einer Gruppe um den Genfer Naturforscher Horace Bénédict de Saussure (ihm haben wir die Etablierung des Begriffs ›Geologie‹ zu verdanken) bestiegen, den Urgroßvater Ferdinand de Saussures. Es wäre also denkbar, daß es ohne den Alpinismus nie eine Lehre von den Zeichen gegeben hätte.
Homophonie, 2
Als ›Segment‹ bezeichnet man in der Linguistik den analysierten Teil einer sprachlichen Äußerung: Laut, Buchstabe, Satzglied, Gespräch usw. Wer eine Grammatik entwickeln will, muß zunächst das Segmentieren beherrschen. Auch der Körper des Regenwurms besteht aus Segmenten. Die Faszination des Regenwurms rührt aus der – kindlichen – Beobachtung, daß man ihn segmentieren kann, ohne ihn damit zu töten. Der segmentierte Regenwurm bewegt sich als verdoppelte Existenz fort.
Graphische Darstellungen der Silbenstruktur in der Phonetik zeigen verblüffende Ähnlichkeit mit dem Gangsystem eines Regenwurms unter der Erdoberfläche.
Zeit, 2
Eine kurze Zeitspanne liegt zwischen dem 19. Februar 1837, als Georg Büchner in Zürich stirbt, und dem 1. November 1837, als Charles Darwin vor der Geological Society of London einen Vortrag über die Regenwürmer hält.
Die Hörfähigkeit des Wurmes, 1
»Würmer besitzen keinerlei Gehörsinn«, schließt Charles Darwin, nachdem er die in seinem Arbeitszimmer in Töpfen lebenden Regenwürmer nacheinander folgenden Geräuschen ausgesetzt hat: den schrillen Tönen einer Metallpfeife, den tiefen Tönen eines Fagotts, dem Geschrei des Naturforschers (oder seiner Kinder?). Selbst als Darwin einen Topf mit Regenwürmern dicht beim Klavier abstellte und das Instrument so laut wie möglich spielte, »blieben sie vollkommen ruhig«.
Erschütterungen
Wenn er auch nicht auf die Erschütterung der Luft durch Schallwellen reagiere, so Darwin, zeige der Regenwurm doch die heftigste, unmittelbare Reaktion bei der Erschütterung von Feststoffen, also des ihn umgebenden Erdreichs.
Mehrstimmigkeit
Regenwürmer lassen sich teilen. Stimmen lassen sich aufteilen. Während eines Aufenthalts in Winterthur im November 1777 zeigt Jakob Michael Reinhold Lenz erstmals Anzeichen einer paranoiden Schizophrenie.
Gier
»Sind Vögel, denen das Messer die Kehle berührt, auf Würmer noch gierig?« fragt Jakob Michael Reinhold Lenz in Die Landplagen.
Die Hörfähigkeit des Wurmes, 2
»Komm her, Wurm«, sagt der Riese zum Trommler im Märchen Der Trommler der Brüder Grimm. In Oswald Eggers Euer Lenz heißt es dazu: »Er springt vor den Trommeln hin und her.«
Bürgerlicher Roman und Farbensehen
Die livische Flagge – Grün, Weiß, Blau – erzählt eine Geschichte, mit der sich jeder Live identifizieren kann.
Erdalter
Das stratigraphische Prinzip interessiert den Regenwurm bei seiner Arbeit nicht im Geringsten.
Zeit, 3
»Ich zog als Wind um um den Zeithof«, heißt es in Oswald Eggers Euer Lenz. Bei »Zeithof« handelt es sich sowohl um eine Unterstreichung Paul Celans in Edmund Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins als auch um den Namen einer Diskothek in Eberstalzell in Oberösterreich.
Regenwürmer im deutschsprachigen Raum
Was folgt aus der Tatsache, daß in Österreich vierzig, in Deutschland lediglich neununddreißig, in der Schweiz dagegen ganze sechzig Arten von Regenwürmern heimisch sind?
Die Silbe »hum«, 2
Ohne Regenwürmer kein Humus. Oder, wie es in Linz und Lunz heißt: »Die schlimmsten Würmer der Erde wohnen unter meiner Rinde.«
Oberfläche und Gegenstand
Jeder an der Oberfläche liegende Gegenstand wird untergraben, beobachtet Charles Darwin, und er hätte es beim Hören von Linz und Lunz genauso gut feststellen können wie angesichts der Tätigkeit der Regenwürmer.
Zitabler Satz
Oswald Egger und Iris Drögekamp verstehen es, mit meisterlicher Eleganz Georg Büchners Lenz und Charles Darwins vier Jahrzehnte währende Erforschung der Regenwürmer akustisch so ineinander zu verschränken, als sei das eine aus dem anderen nicht nur historisch und motivisch, sondern auch klanglich hervorgegangen.
Raum
Wie Büchners Lenz, wie jeder Regenwurm dehnen sich Linz und Lunz im Raum aus, in der Zeit. Wie jedes Hörspiel dehnt sich Linz und Lunz in der Zeit aus, im Raum – nämlich im Spektrum meines von keinem auf eine Klaviertastatur einhämmernden, brüllenden Darwin gestörten Hörfeldes. Doch wie wenige Hörspiele vermag Linz und Lunz dank der mittlerweile fast symbiotisch zu nennenden Zusammenarbeit von Iris Drögekamp und Oswald Egger über die konsequente, unnachahmliche Inszenierung des einzelnen Stücks hinaus exemplarisch die Frage nach den Möglichkeiten des Hörspiels heute mitschwingen zu lassen: Vor meinem inneren Ohr entsteht ein Gang- ein Höhlensystem, die Stimmen schlängeln sich, graben sich durch den kompakten Hörraum. Ja, man glaubt zu spüren, wie dieses Stück durch die drei Sprecher, die drei Sprecherinnen hindurchgeht.
Am Ende haben wir, so Charles Darwins Beobachtung, nichts als frischen Humus vor uns.
Da schnellt aus dem Hinterhalt ein Pfeil heran.
Karl-Sczuka-Preis Hörspiel als Radiokunst
Alle Informationen zum Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst 2024. Archiv mit allen Preiswerken ab dem Jahre 2002.