Karl-Sczuka-Förderpreis 2011

Ulrike Janssen: vogelherdrecherche

Stand
Autor/in
Ulrike Janssen

"vogelherd. mikrobucolica", so heißt einer der geheimnisvollsten und zugleich konkretesten Gedichtzyklen des Dichters Thomas Kling, der 2005 im Alter von 48 Jahren starb. - Ein Vogelherd ist eine Fangvorrichtung für Vögel, auch für Singvögel - seit alters her ein Bild für den Dichter selbst. In Klings Text wird der Vogelherd gleichzeitig zur Fangstelle für die poetische Sprache, für das wahrnehmende Auge und das Ohr. Seine Gedichte, sagte Thomas Kling einmal, seien „Wahrnehmungsapparate“.

Das ist der Ansatz des Hörspiels. Angelegt als „Suche in sechs Strophen und vier Vogelmotiven“ versucht es - vordergründig - herauszufinden, worum es in dem Text geht: Zusammen mit ihrem ‚Mitrechercheur’ Norbert Wehr besucht Ulrike Janssen das Thomas-Kling-Archiv, sichtet den Nachlaß, befragt Ornithologen und Philologen, begeht die Raketenstation, eine renaturalisierte ehemalige  NATO-Raketenbasis, auf der Thomas Kling die letzten 10 Jahre lebte, und besteigt den von Kling zum „Dichterturm“ umdefinierten Wehrturm, der neben seiner früheren Wohnung steht.

Die eigentliche Recherche findet dabei auf der akustischen Ebene statt: in der Auslotung des Sprach- und Musikraums, den die Poesie aufspannt. Sie bewegt sich von den murmelnden Entzifferungsversuchen der Notizen aus dem Nachlass über die Nebengeräusche im Gespräch bis zu den Rezitationen des Dichters in einer Live-Aufnahme, flankiert vom zurückhaltenden Sprechen Otto Sanders und der unbefangenen Lesung des Kindes Lu Janssen, von dort wieder zurück in das Stimmengewirr der Philologen. Sie kreuzt die bei der Recherche aufgenommenen Geräusche - eine knallende Tür, Schritte auf einer Treppe - mit den Percussion- und Bassklarinettensounds der von Gerd Bessler komponierten Musik. Sie sucht die Berührungs- und Kontraststellen zwischen der lyrischen Sprache Klings und den „Gesängen“ und Merksprüchen des Vogelstimmenimitators Uwe Westphal.

So tastet das Hörstück die Motive ab, die der Text Thomas Klings (der sich selbst auch als Historiker und Rechercheur verstand) anbietet: Vogelsprache und Onomatopoesie, Hirtengesang und Idyll, Jagd und Krieg, künstliche Landschaften, durchzogen von Funktürmen und den Überbleibseln eines ehemals militärisch genutzten Geländes.

Das Gedicht und die sich an ihm anlagernden Geräusche, Sounds, Sprach- und Musikfragmente werden zu einem Wahrnehmungsapparat für Dichtung: konkret und geheimnisvoll, weder Klartext noch unverständlicher Laut, sondern alles, was dazwischenliegt: „netz-kürzel-gesang“.

Stimmen: Susanne Reuter, Lu Janssen und Otto Sander

Sowie, im Originalton: Thomas Kling, Norbert Wehr (Rechercheur), Karl-Heinz Frommolt und Uwe Westphal (Ornithologen), Ute Langanky (Malerin, Witwe), Alena Scharfschwert (Archivarin), Erk Grimm und Peer Trilcke (Philologen), Norbert Hummelt, Marcel Beyer (Dichter) u.v.a.

Regie: Ulrike Janssen
Komposition: Gerd Bessler
Dramaturgie: Elisabeth Panknin
Produktion: DLF/HR 2011
Dauer: 46’12 Minuten

Die Preisträgerin

Ulrike Janssen, geboren 1967 in Leverkusen, lebt und arbeitet als freie Hörfunkautorin und -regisseurin in Köln. Sie studierte Germanistik, Philosophie und Französisch an der Universität zu Köln und promovierte dort mit einer Arbeit über „Heilige Zeichen“. Bis 2000 war sie Mitarbeiterin und Dozentin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur in Köln. Daneben arbeitete sie unter anderem als Theaterkritikerin, Online-Redakteurin und Theaterdramaturgin. 1999 bis 2002 kuratierte und moderierte sie, zusammen mit Ute-Christine Krupp und Thomas Hettche, die Poetik-Reihe „Schreibfiguren“ in Köln, Stuttgart und Basel. Neben der Publikation „Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute“, die Ulrike Janssen zusammen mit Ute-Christine Krupp im Suhrkamp-Verlag herausgab, entstanden aus dieser Reihe auch die ersten Hörfunkfeatures für den Westdeutschen Rundfunk. Seitdem hat Ulrike Janssen, zunächst als Autorin, dann auch als Regisseurin und Produzentin ihrer eigenen Stücke, über dreißig Features für verschiedene Sender im deutschsprachigen Raum gestaltet, viele in Zusammenarbeit mit Norbert Wehr. Es sind zumeist akustische Porträts und O-Ton-Collagen über und mit Schriftstellern wie Peter Kurzeck, Reinhard Jirgl, Herta Müller, Anja Utler, Nicolaus Born, Einar Schleef, Hubert Fichte oder Peter Waterhouse, die sich ästhetisch an der Schnittstelle zwischen Feature und Hörspiel bewegen.


Ulrike Janssen war Stipendiatin der Deutschen Studienstiftung und des Grenzgänger-Programms der Robert Bosch Stiftung. - Bereits 2005 produzierte sie, in Zusammenarbeit mit Norbert Wehr, unter dem Titel „Nachbildbeschleunigung“ ein Hörfunkfeature zum ersten Todestag des Dichters Thomas Kling. „vogelherdrecherche“ mit und nach einem Text Thomas Klings ist die erste Hörspielproduktion von Ulrike Janssen als Autorin und Regisseurin. Sie entstand als Werkauftrag für die Frankfurter Positionen 2011 und wurde im Rahmen dieses Festivals am 8. Februar 2011 im Frankfurt LAB live präsentiert, in Zusammenarbeit mit der Malerin Ute Langanky (Rauminstallation) und dem vogelhertz®-Ensemble des Komponisten Gerd Bessler, das aus der gemeinsamen Arbeit am Hörspiel entstand.

Karl-Sczuka-Preis 2011 Institut fuer Feinmotorik: Die 50 Skulpturen des Institut fuer Feinmotorik

Das Institut fuer Feinmotorik arbeitet hier mit präparierten Schallplattenspielern, welche mit allen möglichen Materialien, aber konsequent ohne Schallplatten, bespielt werden.

Karl-Sczuka-Preis 2019 Ulrike Janssen und Marc Matter: Meerschallschwamm und Schweigefang

Die Autorenproduktion für Deutschlandfunk Kultur rekonstruiert in Form eines Audioguides mythologische Apparate zur Tonaufzeichnung–wie den Meerschallschwamm oder den Schweigefang.

Stand
Autor/in
Ulrike Janssen