Eine Gesellschaft in Hungersnot
In einem abgelegenen Tal am Fuß des heiligen Berges Narayama: Ständige Nahrungsknappheit bestimmt alle Sitten und Gebräuche des Dorfes. Diebstahl von Lebensmitteln wird hart bestraft, späte Hochzeiten sollen die Zahl der Esser niedrig halten, überzählige Neugeborene werden getötet, Verzicht auf Lebenszeit gilt als Akt der Solidarität.
So muss jeder Mensch, der 70 Jahre alt wird, vom ältesten Sohn auf den Narayama-Berg getragen werden, um zu sterben. Bald muss auch die 69-jährige O Rin auf den Berg. Ihr ältester und verwitweter Sohn Tatsuhei sieht dem Tag mit Sorge entgegen.
Sterben, damit andere leben
Doch O Rin nimmt alle Traditionen und Rituale in würdevoller Demut an. Ihren Gang zum Narayama sieht sie als größte und ehrenvollste Aufgabe ihres Lebens. Doch muss sie noch einige Angelegenheiten regeln, um ihre Familie in Sicherheit zu wissen.
Die Erzählung aus dem Jahr 1956 beruht auf einer urbanen Legende, die beschreibt, wie Gesellschaften in Zeiten einer Hungersnot ihre ältesten oder jüngsten Mitglieder sterben ließen, um das Überleben der Gruppe zu sichern. Die Geschichten darüber wurden so populär, dass sie im Japanischen zu einem eigenen Genre wurden, „Ubasute” genannt, was wortwörtlich „Eine alte Frau zurücklassen“ heißt.
Ein Musical-Melodram im Radio
Für seine melancholische und zugleich distanziert beobachtete Mutter-Sohn-Geschichte dichtete und komponierte Fukazawa eigene Lieder, die in der Erzählung wie im Hörspiel eine große Rolle spielen. In ihnen werden die Regeln, die das Leben des Dorfes prägen, von Generation zu Generation weitergegeben, durch sie wird verspottet, gemahnt, bestraft und gemaßregelt, aber es drückt sich auch Freude darin aus.
Hörspielregisseur Kai Grehn hat „Die Ballade von Narayama” zusammen mit dem A-cappella-Trio Claudia Graue, Marcus Melzwig und Christopher Nell sowie dem Schauspielensemble Almut Zilcher, Manuel Harder, Jule Böwe, Heinz-Josef Braun u. a. als Musical-Melodram inszeniert.
Über Shichirō Fukazawa
Shichirō Fukazawa, geboren 1914 in Isawa, Japan, war Schriftsteller und Musiker. Er lernte früh klassisches Gitarrenspiel und trat als Gitarrist in das Nichigeki-Theater in Tokio ein. Nach der Rückkehr in seine Heimatstadt begann er zu schreiben. Für “Die Ballade von Narayama“ erhielt er den Chūō-kōron-Nachwuchspreis, weitere Auszeichnungen folgten. Zwei Verfilmungen in den Jahren 1958 und 1983 (ausgezeichnet mit der Goldenen Palme von Cannes) machten “Die Ballade von Narayama“ noch berühmter als ihren Autor.
Fukazawa gründete einen Bauernhof und ein Straßengeschäft und war nach der Veröffentlichung einer Erzählung mit dem Titel “Fūryū mutan” (1960, dt. “Elegante Traumgeschichte”), in der die kaiserliche Familie im Kontext einer Revolution umkommt, in einen politischen Skandal verwickelt, der zu einem Anschlag auf den Herausgeber der Zeitung führte, in der der Text veröffentlich worden war. Mitte der Siebzigerjahre zog sich Fukazawa aus der Öffentlichkeit zurück, er starb 1987 73jährig in Shōbu.
Ein Musical-Melodram nach der gleichnamigen Erzählung von Shichiro Fukazawa
In der Übersetzung von Klaudia Rheinhold
Mit: Almut Zilcher, Manuel Harder, Jule Böwe, Heinz-Josef Braun u. v. a.
Gesang und Gesangskomposition: Muttis Kinder
Hörspielbearbeitung und Regie: Kai Grehn
Redaktion und Dramaturgie: Andrea Oetzmann
(Produktion: SWR 2024 - Premiere)