MANFRED HESS
Prosa und dramatische Rollentexte sind dramatische Rollentexte und Prosa, die es als Schauspieler professionell zu meistern gilt – ob sie einem persönlich sehr oder auch minder gefallen. Für die Sprachaufnahmen zur Hörspielfassung des „Brigge“ haben Sie aber trotz vieler Verpflichtungen am Theater oder beim Film Termine extra frei geschaufelt, um beim SWR in Baden-Baden der Figur des 28jährigen Dänen Malte Laurids Brigge im Paris der Jahrhundertwende Ihre Stimme zu geben. Was verbindet Sie persönlich mit Rilke und seinem „Brigge“?
JENS HARZER
Für mich ist Rilkes „Malte“ einer der mir wichtigsten Texte überhaupt; er begleitet mich seit sehr vielen Jahren und hat mich zum Schauspielerberuf gebracht. Fast bin ich geneigt zu sagen, er ist einer meiner persönlichen Schlüsseltexte. Umso schöner, dass einem das dann angeboten wird als Hörspiel, - so eine glückliche Fügung ist ja selten.
MANFRED HESS
Wenn ein Text einem als Jugendlicher oder junger Erwachsener bewegte, muss man nicht selten bei späterer zumal professioneller Auseinandersetzung mit ihm das Bild korrigieren. Haben Sie bei Ihrer Arbeit Aspekte entdeckt, die sie überraschten oder ihr Bild von den „Aufzeichnungen“ veränderten?
JENS HARZER
Mir ergeht es so, dass der Reichtum dieses Textes nie aufhört. Sich verändert ja, aber nicht aufhört. Und das ging mir auch schon in den verschiedenen Lebensphasen der Lektüre so. Es kommt immer etwas dazu, manches nimmt ab, aber es kommt immer was dazu.
Früher war ich beim Lesen geneigt, mich mit der jungen Stimme von Malte gleichzusetzen. Das hat jetzt etwas abgenommen. Nun ist der bittere Ton der Lebenshälfte für mich eher hörbar.
Was aber bleibt, ist das ständige Gefühl, seinen Eindrücken nicht Herr werden zu können; das Gefühl, dass alles in dich hineinfällt und du kein Schutzorgan in dir hast, um die Eindrücke, Erlebnisse etc. zu verstehen oder ähnliches. Dieser Segen und Fluch, zu sensibel zu sein mit der Welt. Sich ihr ausliefern, permanent, aber eigentlich nicht dafür geschaffen zu sein. Über seine Kräfte zu leben; den Dingen ohne Eltern, ohne Heimat, ohne Gott letztlich ausgeliefert zu sein, - und das alles zu wissen und trotzdem sehen zu müssen, sehen zu wollen. das ist ja so unbarmherzig und weise zugleich. Dieser ganze Aspekt von Rilkes Malte, - das ist für mich weiterhin ganz nah und das hat, wenn man das überhaupt so sagen darf, sehr mit mir zu tun. Was gibt es Schöneres!
Und es weht einen ja immer auch, dieser Satz von Albert Camus über die schöne Gleichgültigkeit der Welt, -auch das ist Malte. Es gibt eine Stelle, wo er über sich sagt, dass er eigentlich ohne Neugierde durch die Welt gehe. Verrückt, warum sagt er das? Er weiß eben auch schon alles, auch wie er fühlen wird, er beobachtet sein Beobachten, wie Dostojewskis „Raskolnikov“. Und er ahnt auch, dass sich alles verwandeln wird. Irgendwo heißt es: "Ich werde geschrieben werden, ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird." Er sieht die Transformation auch schon voraus. Es ist so schön und kompliziert, zum Verrücktwerden.
MANFRED HESS
Könnten Sie mir einen ihrer Lieblingssätze aus dem „Brigge“ nennen?
JENS HARZER
Es gibt sehr viele, aber heute sage ich:
„Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich hinein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wusste. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht."