Werke des Jahres 2000

Der Mensch ist ein Tier, das fern-sieht

Stand

Harald Kille

Handzeichen

Gesten
Symbole
Instrumentalisierung von Bildern.
Nebeneinander von verschiedenen Ebenen.
Der Bruch als Möglichkeit zu anderen Lösungen zu kommen.
Harmonisierung des Ganzen.
Das Chaos offen legen und mit Geist füllen.
Der Mensch ist ein expressives Wesen.
Ich habe als Künstler keine Berechtigung, wenn meine Kunst ohne Widerstand die Normalität verkörpert. Sie muss über die Normalität Salz im Getriebe, Sand in der Suppe sein, nicht ungebremst die Publikumsgurgel hinunterrutschen.

Also: der Mensch ist ein expressives Wesen, dessen Sprachentwicklung sich immer wieder aus oralen, analen und sexuellen Impulsen gespeist hat. Und natürlich sind die Künste komplexe Sprachgebilde.

Eine Hand kann zur obszönen Geste verwendet werden. Die Hand und ihre Möglichkeiten sind aber nie von vorneherein obszön.

Genauso verhält es sich mit anderen Dingen: die ihnen zugemessene Symbolik hängt weniger von ihrer eigentlichen Existenz ab, als von der Existenz dessen, der die Dinge wahrnimmt.

Und weiter von der Geschichte derjenigen, die sie mit den Sinnen wahrnahmen und ihnen Namen und bestimmte Bedeutung zusprachen.

Alle Reizauslösungen und Projektionen, die über ein Ding überliefert sind und über die man übereinkam, sind also höchst willkürlich, wenn auch nachvollziehbar.

So ist nicht die Handgeste obszön, sondern die ihr zugeordnete Bedeutung. Nimmt man nur ihre Gestalt (mit dem Bewusstsein ihrer Bedeutung, der man aber kein Ziel gibt), verliert sie ihre Instrumentalisiertheit.

Ich stelle sie innerhalb der Bilder in andere Zusammenhänge, so dass die zielgerichtete Übereinkunft der Bedeutung ins Leere geht, Brüche auftreten, und erst über diese Brüche das ganze Bild wahrgenommen werden kann.

Und zwar das harmonische Ganze des Bildes (nachdem verschiedene Ebenen entinstrumentalisiert worden sind). Zum Beispiel collagiere ich Werbeanzeigen, Fernsehprogramme, Zeitschriftenausschnitte, Pizza-Service-Reklame usw. wahllos ins Bild, um dem Arbeitsprozess eine unvorhergesehene Richtung zu geben und so die verschiedenen komplexen Zusammenhänge erst wieder entstehen können, nachdem die "normalen" Reizthemen und Zielsetzungen überwunden sind und gleichzeitig die ganze pornografische Wirklichkeit, in der wir leben (sie ist deshalb pornografisch, weil alles zwischen Himmel und Erde benutzt wird, um Profit zu machen), ins Blickfeld rückt. Das Ganze wird erst zum Ganzen, wenn man die voreingenommenen Bedeutungen und die Übereinkünfte über den Inhalt von Schubladen über Bord wirft und dem Bild Autonomie zugesteht. Und zwar eine Autonomie, durch die das Bild zum Dialogpartner wird. Der Weg über ein Reizthema ist also konkreter Anlass, um einen Dialog zu eröffnen, der hoffentlich ganz woanders endet als dort, wo er begonnen hat.

Ich bin kein postmoderner Künstler, ich bin kein moderner Künstler, ich bin höchstens ein Zukunftskünstler: weil der expressive Archaik-Schrott (der so modern wirkt) schon da war, weil Romantik in jeder Epoche auftaucht, weil die Auflehnung schon da war und weil die gesamte Gegenwartsprovokation lachhaft ist.


"Ich bin meiner Zeit voraus, ich bin meiner Zeit hinterher, ich vertrete eine zeitgenössische Position, ich bin anbiedernd genug, auf die Tradition zu pfeifen." "Ich bin großkotzig genug, auf Selbstkritik zu verzichten." "Ich bin schlau genug, um dem eigenen Ernst zu entsagen." "Ich bin opportun genug, um den Markt zu unterhalten." "Ich bin lustig genug, um dem Spießer einen Kitzel zu verschaffen." "Ich bin arrogant genug, um so zu tun, als wüsste ich, was gespielt wird." "Ich bin aufgeschlossen genug, um mein Fähnchen in den richtigen Wind zu halten." "Ich bin beweglich genug, um Aerodynamik zu erzeugen." "Ich bin glatt genug, im richtigen Kanal keine Quersperre zu verursachen."

"Ich bin jung, aber nicht zu jung. Ich habe Naivität und Spieltrieb an der Garderobe abgegeben." "Ich bin medienorientiert und medienkritisch." "Ich bin einer, der sagt: hier geht es um andere Probleme." "Ich bin so reduziert, dass meine Ästhetik niemandem weh tut." "Ich arbeite meisterhaft mit der Langeweile einer vollgefressenen, übersättigten Zeit."

Harald Kille

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Autor/in
SWR