Ein Fall aus jüngster Zeit: Ein Paar wird in der Nähe des Mainzer Hauptbahnhofs von einem Auto erfasst. Der Mann stirbt, seine Begleiterin kommt schwer verletzt ins Krankenhaus. Unbekannte machen Fotos und Videos vom Unfallort und verbreiten sie im Netz. Wie Zeugen berichten, fotografierten auch Anwohner aus den umliegenden Häusern und drehten von den Fenstern aus Handy-Videos. "Schamlos" sei das gewesen, urteilte die Mainzer Polizei.
Inzwischen liefen mehrere Ermittlungsverfahren, sagte Polizeisprecher Rinaldo Roberto dem SWR. Nach dem Fall habe man einen relativ hohen öffentlichen Druck erzeugt und damit dazu beigetragen, dass die Menschen die Videos und Fotos wieder aus den sozialen Netzwerken genommen hätten. Was aber hatte sie zu ihrem Tun verleitet?
Warum gaffen wir?
Wann wird Gaffen zum Problem?
Wann ist Gaffen strafbar
Warum gaffen wir?
Dieses Verhalten steckt Experten zufolge in jedem von uns. Es ist sozusagen im Laufe der Evolution entstanden. Denn früher mussten wir wachsam sein, um zum Beispiel unsere Gruppe oder unsere Herde zu schützen. Wenn etwas Außergewöhnliches passierte, haben wir zunächst einmal geschaut und uns gefragt: Ist das gefährlich? Sind wir bedroht? Kann ich helfen? Ist es vielleicht ein wildes Tier?
Diese Reflexe haben wir grundsätzlich noch heute - wir sind neugierig. Wir wollen instinktiv eine Situation erfassen und herausfinden, ob uns Gefahr droht. Auch unser Lernbedürfnis spielt eine Rolle. Wir wollen verstehen, was um uns herum passiert und daraus lernen.
Schaulust bei Unglücken kann durchaus normal sein
Zuschauen bei außergewöhnlichen, spektakulären Ereignissen ist also erstmal nicht unbedingt verachtenswert, sondern normal - und manchmal sogar sinnvoll. Auch die Polizei erklärt, dass das bloße Beobachten eines Einsatzes nicht verboten sei. Es gebe eben die menschliche Neugier. Es dürfe jeder von der anderen Straßenseite zuschauen, so Polizeisprecher Roberto. Das Filmen unterbinde man, wenn es möglich sei. Man habe bei einer Unfallaufnahme nicht so viele Einsatzkräfte zur Verfügung, um große Räume abzusperren. Bei dem Unfall in der Mombacher Straße in Mainz seien die Bereiche um die Unfallstelle geräumt und Leute weggeschickt worden.
Die Psychologin Marisa Przyrembel von der Akkon Hochschule in Berlin betont: "Es ist ganz wichtig, dass nicht jede Art von Zuschauen problematisch oder pathologisch ist." Es gebe keine Zweiteilung - "der böse, verrohte Gaffer und der edle Retter, der alles perfekt macht". Die Gründe für das Gaffen seien individuell. Schaulustige sollten also nicht von vornherein abwertend als Gaffer bezeichnet werden.
Wann wird Gaffen zum Problem?
Ab wann werden wir aber zum Gaffer, zur Gafferin? "In dem Moment, wo ich nicht frage, ob ich helfen kann, sondern anfange zu denken: Hier bleibe ich noch ein bisschen länger, das könnte interessant werden", stellt der Psychologe Michael Thiel in einem Beitrag des WDR-Magazins Quarks klar. Das widerspreche allen natürlichen Reaktionen wie Flucht oder Angriff.
Zuschauen, wie es weitergeht, helfe manchen Menschen dabei, das Ereignis zu verarbeiten, so Marisa Przyrembel. Auch Überforderung in einer krassen Situation spiele eine Rolle: Man tue dann Dinge, von denen man danach denke: "Mein Gott, warum hab ich das denn gefilmt? Was hat mich denn da geritten? Aber ich hatte in dem Moment keinen anderen Plan als das."
Auch der Wunsch nach Aufmerksamkeit und nach Anerkennung kann dazu führen, dass wir Fotos und Videos eines Unfalls verbreiten. Für manche kann Gaffen auch eine Art Ablenkung von eigenen Problemen sein.
Es gibt aber auch manche Menschen, die eine sehr starke "Faszination des Abscheulichen" haben, wie der Psychotherapeut Christian Lüdke es nennt. Manche Menschen seien aufgrund früherer Erfahrungen emotional abgestumpft, beim Anblick eines Unfalls spürten sie aber plötzlich wieder etwas, obwohl sie selbst gar nicht beteiligt sind.
Und was geht ganz und gar nicht?
Die Schaulust sollte nicht dazu führen, dass man bei Unfällen nicht hilft, Rettungskräfte behindert oder die Persönlichkeitsrechte der Opfer verletzt. Das sind alles absolute No Gos.
Gaffende "behindern, belästigen, missachten die Persönlichkeitsrechte betroffener Personen, verhindern möglicherweise Rettungsmaßnahmen und können dadurch zu einem größeren Schaden oder auch Leid bei Betroffenen beitragen", so die Polizei.
Mit dem Projekt "Gaffen tötet" macht die Johanniter-Unfall-Hilfe gezielt darauf aufmerksam, wie gefährlich ein vermeintlich harmloses Zusehen oder ein "schnelles Foto" an Einsatzorten sein kann. Schlimmstenfalls könne es zu Verzögerungen der Rettungsarbeiten oder zu weiteren Unfällen kommen. Der auf den Rettungswagen angebrachte QR-Code löst auf dem Handy der Fotografierenden den automatischen Warnhinweis "Gaffen tötet!" aus. So soll Filmenden und Fotografierenden ihr Verhalten unmittelbar bewusst gemacht werden. Der Aufruf der Johanniter an alle, die sich einer Unfallstelle nähern: das Gaffen, auch wenn es in der menschlichen Natur liege, einfach zu lassen.
Wann ist Gaffen strafbar?
Seit 1. Januar 2021 gilt laut Paragraf 201a des Strafgesetzbuches, dass das Fotografieren oder Filmen von hilflosen, verletzten oder toten Personen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren belangt werden kann. Ebenso ist die Behinderung von Rettungskräften nach Paragraf 323c unter Strafe gestellt.
Weitere Straftatbestände sind in diesem Zusammenhang etwa die unterlassene Hilfeleistung, der gefährliche Eingriff in den Straßenverkehr und der Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und ihnen gleichgestellte Personen wie Angehörige der Feuerwehr oder der Rettungsdienste.
Ergötzen am Leid der Anderen Fotografieren, Filmen, Hochladen: Diese Strafen erwarten Gaffer
Bei Unfällen in Rheinland-Pfalz kommt es immer wieder vor, dass Gaffer Einsatzkräfte behindern. Das ist strafbar, wird aber selten geahndet. Wichtige Fragen und Antworten im FAQ.
Wie viele Urteile gegen Gaffer gab es seit der Strafverschärfung?
Nach Angaben des Justizministeriums wurden im Jahr 2022 insgesamt 21 Personen wegen Straftaten nach Paragraf 201a verurteilt. In zwei Fällen erfolgte ein Freispruch beziehungsweise eine gerichtliche Einstellung des Verfahrens. 2021 waren es 24 Verurteilungen bei insgesamt 31 Gerichtsverfahren.