Wer in der Praxis von Reinhold Jansen anruft, muss sich in Geduld üben. Denn oft hängen noch sieben, acht andere Patienten in der Warteschleife, bevor jemand abhebt. So geht es auch Stephanie Adams, einer 33-jährigen Mutter aus der Verbandsgemeinde Kaisersesch, am Montag, dem 8. Mai. "Ich wollte einen Termin für meine zweijährige Tochter in Daun bekommen", sagt Adams. Doch erst nach 43 Anrufen, Stunden später, bekommt sie jemanden ans Telefon.
Reinhold Jansen tut es leid, dass seine Leitung so oft besetzt ist. Doch derzeit lasse sich das kaum vermeiden. 150 Kinder und Jugendliche behandelt der Arzt in Daun nach eigenen Angaben am Tag, 2.000 sind es insgesamt. "Und das ist weder für das Personal noch für die Patienten zumutbar und übersteigt bei weitem unsere Kapazitäten." Zumal Jansen im Rentenalter von 73 Jahren ist.
Doch an seinem medizinischen Versorgungszentrum hänge die halbe Region. Im Osten der Vulkaneifel gebe es keine andere Anlaufstelle mehr für Eltern und ihre kranken Kinder, auch in den angrenzenden Landkreisen Cochem-Zell und Mayen-Koblenz nicht. Und die beiden anderen Kinderarztpraxen in Daun und Gerolstein seien ausgebucht. "Wenn wir zumachen, tritt eine Katastrophe ein, vor der ich schon lange gewarnt habe", sagt Jansen. Und dieser Tag sei womöglich nicht mehr fern.
60.000 Euro angeblich nicht an die Praxis ausgezahlt
Denn Jansen findet keinen Nachfolger. Ein aussichtsreicher Kandidat, der die Praxis im Frühjahr übernehmen sollte, sei ihm abgesprungen. Vier Jahre lang hatte er den früheren afghanischen Chefarzt darauf vorbereitet, eingearbeitet und ausgebildet. "Doch er sah hier keine Perspektive", sagt der Kinderarzt: "Und hat jetzt eine Anstellung in einem Koblenzer Krankenhaus angenommen."
Der Grund: Die Praxis ist vor kurzem in finanzielle Turbulenzen geraten, wie Jansen es ausdrückt. Und verantwortlich dafür macht der 73-Jährige die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Rheinland-Pfalz. Die habe rund 60.000 Euro nicht ausgezahlt, die der Praxis nach seiner Ansicht zustehen würden. Die beiden Kinderärzte hätten im medizinischen Versorgungszentrum Patienten behandelt, diese Leistungen seien aber nicht honoriert worden.
Keine Kinderärzte in Kaisersesch und Ulmen
Dabei geht es zum einen um Fälle, die der afghanische Mediziner übernommen hat. "Die KV hat die Situation so interpretiert, dass unser Arzt die Fälle nicht hätte abrechnen dürfen, weil er noch in der Ausbildung war", sagt Jansen. Aber auch bei ihm seien nicht alle Behandlungen abgerechnet worden. Denn nach Ansicht der Kassenärztlichen Vereinigung hätte er in der Praxis nicht so viele Patienten behandeln dürfen - insbesondere keine Kinder aus den Nachbarkreisen.
Dazu gehört auch die Familie Adams aus Eulgem bei Kaisersesch. Doch welche Wahl bleiben Mutter und Kind, wenn es für die fast 3.000 kleinen Patienten in der Verbandsgemeinde und der angrenzenden Kommune Ulmen keine Kinderärzte gibt? "Ich könnte höchstens nach Zell an der Mosel fahren, da wäre ich aber für einen Weg schon eine gute Stunde unterwegs", sagt Adams.
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Arzt klagt vor Sozialgericht gegen Kassenärztliche Vereinigung
Doch für die Kassenärztliche Vereinigung spiele diese Unterversorgung keine Rolle, sagt Jansen: "Ich habe mehr Kinder behandelt, weil diese Patienten sonst gar nicht versorgt worden wären. Und daraus wird mir dann noch ein Strick gedreht." Er hat den Eindruck, für das Bemühen, eine vernünftige Versorgung in der Region hinzubekommen, noch bestraft worden zu sein.
"Eine Ungerechtigkeit", findet Jansen, der derzeit auch versucht, die Honorare vor dem Sozialgericht in Mainz einzuklagen. Weil in der Sache ein Verfahren läuft, will sich die Kassenärztliche Vereinigung auf SWR-Anfrage nicht zu dem Fall Jansen äußern. Ein Pressesprecher erklärt lediglich, dass es auch nach Ansicht der KV zu wenige Kinderärzte in Rheinland-Pfalz gibt.
Eltern fordern, dass Kommunen einen Kinderarzt organisieren
Damit sich das ändert, hat Stephanie Adams eine Petition ins Leben gerufen. Darin fordert sie die Ortsbürgermeister aus den Verbandsgemeinden Kaisersesch und Ulmen dazu auf, einen Kinderarzt für die Region zu organisieren. In dem Schreiben, das inzwischen in Arztpraxen, Apotheken, Supermärkten und Tankstellen ausliegt, heißt es: "Es ist ein absolutes Unding, dass erwartet wird, dass die benachbarten Verbandsgemeinden die ärztliche Versorgung der Kinder übernehmen."
"Wenn ein Kind krank wird und nicht behandelt werden kann, dann ist das für mich eine Kindeswohlgefährdung", sagt Adams: "Ich verstehe nicht, wieso die kleinsten und schutzbedürftigsten Menschen in unserer Gesellschaft so im Stich gelassen werden. Warum haben wir keine Kinderärzte?“
Politik sieht sich nur als Vermittler
Doch sind Politiker diejenigen, die diese Frage beantworten müssten? "Wir tun alles uns mögliche, um einen positiven Beitrag zur gesamten Gesundheitsversorgung in der Region zu leisten", sagt jedenfalls Landrätin Julia Gieseking (SPD). So finanziere die Kommune etwa Medizinstipendien für angehende Ärzte, die im Ausland studieren wollen. Zudem arbeite der Kreis Vulkaneifel mit den drei angrenzenden Landkreisen zusammen, um nach Lösungen zu suchen.
Im Falle der Kinderarztpraxis in Daun seien der Verwaltung aber die Hände gebunden, so Gieseking: "Selbstverständlich werden wir uns hier auch weiterhin einbringen, wo möglich. Allerdings haben wir nur die Möglichkeit zu vermitteln, denn die Besetzung von Kassensitzen ist ausschließlich Sache der Kassenärztlichen Vereinigung."
Im Herbst könnte mit der Praxis Schluss sein
Stephanie Adams reichen solche Aussagen nicht: "Diese Schuldzuweisungen bringen niemanden weiter." Was sie sich wünscht: "Ich bitte die Politik mit der Kassenärztlichen Vereinigung, mit den Krankenkassen, dem Gesundheitsminister oder wem auch immer: Arbeitet doch bitte zum Wohl unserer Kinder Hand in Hand und versorgt unsere Region mit Kinderärzten."
Reinhold Jansen glaubt auch, dass die Praxis in Daun noch zu retten wäre, wenn etwa ein Krankenhaus oder ein Investor sie als Träger übernehmen würde. "Eine Klinik könnte in einem medizinischen Versorgungszentrum Ärzte anstellen, die dann auch in Teilzeit arbeiten könnten", sagt der 73-Jährige. Für solche Stellen fänden sich sowohl junge Mediziner als auch Ärzte im Rentenalter. "Jemanden zu finden, der eine Praxis auf dem Land übernehmen will, ist aber fast aussichtslos", glaubt der Mediziner: "Dieser Verantwortung und Bürokratie will sich niemand mehr stellen."
Die Hoffnung auf einen Nachfolger hat Jansen dennoch nicht aufgegeben. Bis Ende des Jahres werde er die Praxis noch weiterführen, auch um liegen gebliebene Termine abzuarbeiten, sagt er. Aber noch lange weitermachen kann und will der 73-Jährige nicht. Wenn er dichtmachen würde, hieße das für Stephanie Adams: Entweder den weiten Weg nach Zell auf sich zu nehmen oder noch mehr Zeit in Warteschleifen zu verschwenden. "Ich bin wirklich verzweifelt", sagt die 33-Jährige.