Bei Michael Vietze aus dem hessischen Bischofsheim (Kreis Groß-Gerau) hat 2020 alles damit angefangen, dass er sich auf der Arbeit Passwörter nicht mehr so gut merken konnte. "Anscheinend sind da ein paar Synapsen durch die Sphären geflogen", beschreibt Michael Vietze, was bei ihm im Kopf vor sich geht.
Zuerst sei nicht klar gewesen, ob die Vergesslichkeit vielleicht mit Stress zu tun haben könnte, erzählt seine Frau Nadja Thon-Vietze. "Meine Tochter hat dann aber irgendwann gesagt: Mama, ihr müsst mit dem Papa mal zum Hausarzt. Er kann sich Sachen nicht merken oder der fragt mich Sachen... Das ist komisch."
Bei der Diagnose Alzheimer "fast aus dem Stuhl geknallt"
Nach den ersten Tests habe der Hausarzt den damals 59-Jährigen in die Gedächtnisambulanz der Universitätsmedizin Mainz überwiesen. Schnell kam dann die Diagnose Alzheimer, die zuerst aber nur als leichte kognitive Störung auftritt. "Man kann aber nicht sagen, wie schnell es sich verändert", so Thon-Vietze. Michael Vietze selbst sagt, dass er bei der Diagnose "fast nach hinten aus dem Stuhl geknallt" sei.
Ein Jahr nach der Diagnose sei er dann aber in den Vorruhestand gegangen. Im Alltag gehe es ihm aber weiterhin gut, erzählt der 62-Jährige. "Zuhause kann ich alles selbständig machen." Außerdem ist er weiterhin aktiv. Trifft Freunde, fährt E-Bike und spielt Walking Football. Außerdem macht er zu Hause und in der Ergotherapie regelmäßig Konzentrationsübungen.
Michael Vietze hofft, dass sich sein Gedächtnis leicht verbessert. "Aber man muss auch ehrlich sein: Ich habe etwas. Und jetzt muss man schauen, mit welchen Sachen man da rangehen kann, um vielleicht doch eine bessere Situation für mich zu schaffen."
Immer mehr Patienten in der Mainzer Gedächtnisambulanz
In der Gedächtnisambulanz in Mainz ist Michael Vietze auch noch vier Mal im Jahr zur Kontrolle. Er ist einer von vielen Patienten dort und es werden immer mehr. Das berichtet Isabel Heinrich, Leiterin der Mainzer Gedächtnisambulanz. Im letzten Jahr haben sie und ihr Team etwa 500 Menschen behandelt. Die Wartezeit für einen Termin beträgt mittlerweile drei Monate.
Grund dafür sei der demografische Wandel, sagt Heinrich. Und weil es in Zukunft vermutlich noch mehr ältere Menschen geben wird, erwartet sie in Zukunft sogar noch mehr Patientinnen und Patienten in ihrer Ambulanz. "Gerade in die Zukunft gedacht, ist der Bedarf hier sicherlich nicht gedeckt", so Heinrich.
Wichtig: Wie erleben Angehörige betroffene Person?
Oft werden die Patientinnen und Patienten - wie Michael Vietze - von einem Facharzt oder einem Hausarzt an die Gedächtnisambulanz überwiesen, erzählt Heinrich. In einem Erstgespräch gehe es dann vor allem darum zu erfahren, wie es der Patientin oder dem Patienten geht und welche Probleme sie oder er hat. Wichtig dabei ist laut Heinrich, dass möglichst auch immer eine weitere Person dabei ist, die der Patientin oder dem Patienten nahe steht. "Das liegt daran, dass bei Menschen mit einer neurodegenerativen Erkrankung die Eigen- und Fremdwahrnehmung voneinander abweichen."
Tests sollen zeigen, woher die Gedächtnisprobleme kommen
Nach einer körperlichen und psychischen Untersuchung werden in der Gedächtnisambulanz neuropsychologische Tests durchgeführt.
Laut Neuropsychologin Alisa Deuben soll dabei beispielsweise untersucht werden: Wie aufmerksam ist die Person? Wie schnell reagiert sie auf visuelle Reize? Oder wie gut können sich die Patientinnen und Patienten Wörter oder Bilder merken oder Gegenstände benennen?
"Um daraus dann ein kognitives Profil zu erstellen und zu schauen, in welches Erkrankungssbild passt das besonders gut rein", so Düben. Als Vergleichsmaßstab dienen dabei Menschen in der gleichen Altersklasse und mit der gleichen Bildung, aber eben ohne Erkrankung.
Alzheimer ist die häufigste Diagnose in Gedächtnisambulanz
Die häufigste Ursache für die Gedächtnisprobleme der Patientinnen und Patienten in der Ambulanz ist laut Leiterin Heinrich - wie bei Michael Vietze - eine Alzheimer-Erkrankung. Diese ist nur schwer zu behandeln. Es gebe aber auch andere Ursachen für Gedächtnisprobleme, wie eine Depression beispielsweise, die gut behandelbar seien. "Es gibt auch ausgeprägte Vitamin-Mangelzustände, die so etwas mal verursachen können, oder eine Schilddrüsenfunktionsstörung. Das sind alles Dinge, die man natürlich ausschließen muss, weil sie ganz anders behandelt werden."
Gedächtnisambulanz will im Umgang mit der Krankheit helfen
Die Diagnose Demenz führe bei den Betroffenen zu ganz unterschiedlichen Gefühlen, erzählt Heinrich. Neben Ängsten und Niedergeschlagenheit gebe es auch Patientinnen und Patienten, die erleichtert seien. "Weil das, was sie schon vermutet oder befürchtet haben, jetzt endlich einen Namen hat und sie damit auch ein Stück Selbstwirksamkeit zurückbekommen, jetzt auch etwas dagegen tun zu können." Zum Beispiel gebe es die Möglichkeit, eine medikamentöse Therapie zu beginnen. Die Ambulanz verordnet aber auch Hirnleistungstrainings oder eine neuropsychologische Therapie.
In dieser geht es laut Neuropsychologin Alisa Düben dann vor allem darum, die Aufmerksamkeit zu trainieren. Aber auch um Wege, wie man Gedächtnisprobleme kompensieren kann. "Habe ich zum Beispiel irgendwie einen digitalen Kalender, der mich an bestimmte Termine erinnert? Oder einen großen Wandkalender, wo man dann immer morgens zusammen draufschaut, was heute ansteht?"
Behandlungsmöglichkeiten für seltene Demenz-Erkrankungen
Für Patienten, die ein seltenes Störungsbild haben, wie zum Beispiel eine sprachbetonte Demenz-Erkrankung (Primär Progrediente Aphasie) oder eine Alzheimer-Erkrankung, die schon früh im Leben auftritt (jünger als 65 Jahre), gibt es aber auch spezielle Behandlungsmöglichkeiten in der Gedächtnisambulanz. Zum Beispiel eine Gruppentherapie für Betroffene und ihre Angehörigen. Die Bedürfnisse von Menschen zwischen 50 und 60 Jahren seien schließlich anders, als wenn die Erkrankung im hohen Alter auftritt.
"Wenn man noch selbst berufstätig ist, vielleicht noch Kinder hat, die auch abhängig sind oder noch mit im Haushalt leben, dann sind das auch sozialmedizinisch ganz andere Themen, die zur Sprache kommen, als wenn die Erkrankung im hohen Lebensalter ab 85 Jahren auftritt", so Heinrich.
Bei sprachbetonter Demenz kann Logopädie helfen
Bei einer sprachbetonten Demenz kann laut Heinrich zudem eine logopädische Therapie helfen, weil diese Patientinnen und Patienten oft auch Sprachstörungen, Wortfindungsstörungen oder einen stockenden Sprachfluss haben.
Weil bei dieser sprachbetonten Demenz wie bei einer Alzheimer-Erkrankung aber auch Gehirnzellen absterben, können die Therapien laut Heinrich den eigentlichen Krankheitsprozess leider nicht beeinflussen. Das neuropsychologische und logopädische Training könne den Krankheitsverlauf und die Lebensqualität der Betroffenen aber positiv beeinflussen. "Davon sind wir fest überzeugt", so Heinrich.
"Kämpfen und Siegen"
So haben auch Michael Vietze und seine Frau Nadja Thon-Vietze im hessischen Bischofsheim mittlerweile einen Umgang mit der Krankheit gefunden. Auch wenn es oft kräftezehrend ist, erzählt Nadja Thon-Vietze. Denn gerade in den letzten beiden Wochen sei es ihrem Mann oft schlecht gegangen. "Es gibt auch Tage, da sitzt er hier und dann laufen die Tränen und er sagt: Warum ausgerechnet ich?!"
Für die Zukunft wünscht sich Michael Vietze vor allem Gesundheit für seine Kinder und seine Frau. "Wünschst du dir auch was für dich?", fragt Thon-Vietze ihren Mann. "Dass es mir besser geht, klar."