"Als unser Kind 15 Jahre alt war, hat es seinem Bruder einen kleinen Zettel geschrieben. Da stand drauf, dass er jetzt mit seinem männlichen Namen angesprochen werden will. Und, dass er sich gut im Internet informiert hat und, dass er jetzt ein Transsohn ist. Als wir von dem Brief erfahren haben, haben wir ihn gleich angerufen und gesagt, dass wir ihn lieb haben. Das war so eine spontane Sache. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich auch noch sehr unsicher gefühlt. Das ist jetzt sieben Jahre her.
Wir hatten keine großen Informationen darüber. Am Anfang haben wir natürlich gedacht, das geht vielleicht wieder weg, damals war das für uns noch nicht so klar. Aber wir haben nicht gegen das Transsein argumentiert. Wir sind offen mit dem Thema in der Familie umgegangen.
Die Gefühle von Transmenschen sind schon extrem. Das war auch bei meinem Sohn so. Das habe ich auch erst lernen müssen. Ich war viel in Chatgruppen im Internet unterwegs und habe persönliche Gespräche mit Transmenschen geführt. Ich habe auch Bücher gelesen. Trotz des Coming Outs in der Familie ging es meinem Sohn nicht gut. Wir haben uns dann an einen Psychotherapeuten gewandt und dann gab es da zahlreiche Besprechungen.
Was er damals gefühlt hat, stelle ich mir so vor: Das ist, wie wenn man jetzt als Fußballstürmer eine super Flanke bekommt und man versemmelt dann das Tor! In dem Moment fühlt man sich schlecht. Und wenn dann anschließend noch der Trainer kommt und einen beschimpft, dann fühlt man sich noch schlechter und dann stimmt etwas nicht mit der inneren Gefühlswelt und den äußeren Träumen überein. Und noch schlimmer ist das dann bei den Transmenschen, wie meinem Sohn. Wenn die sich im Spiegel anschauen, dann stimmt das nicht überein, mit dem, wie sie leben müssen, was sie da im Spiegel sehen und welche Träume sie eigentlich haben.
Jeder Mensch hat, so sehe ich das, zehn "Kraftgläser" am Tag, die man nach und nach leer macht und wenn man dann noch mit so was belastet wird, dann werden die noch schneller leer und man denkt immer über die Situation nach. So wie bei meinem Sohn damals. Dann sind die Gläser schon nach einem halben Tag leer. Man kommt mit seinen Gefühlen und seinem Selbstbewusstsein nicht klar.
Es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis er sich in der Schule als Junge geoutet hat. Sein Therapeut hat ihm vorgeschlagen, dass er sich mit drei Lieblingslehrern und -lehrerinnen trifft. Dann wurde ein Termin festgelegt, bei dem auch wir Eltern dabei waren und während des Termins wurde das "Drehbuch" des Coming Outs besprochen. Mein Sohn konnte entscheiden, wie das aussieht.
Das hat uns Eltern sehr stolz gemacht. Während der ganzen Schulzeit hat er von keinem Fall erzählt, wo er wirklich diskriminiert worden ist. Was ich immer noch fühle, ist eine leichte Trauer, weil ich eine Tochter verloren habe. Dann sage ich mir: Ich habe einen Sohn gewonnen! Trotzdem ist da ein Verlustgefühl. Das kann ich kopfmäßig nicht gut erklären. Heute ist mein Sohn 22 Jahre alt. Es geht ihm besser, aber trotzdem hat er noch leichte Probleme. Wir können nicht sagen: alles ist blendend, alles ist wunderbar. Aber es geht aufwärts. Das ist die Hauptsache."