Bei der Vorstellung des Verfassungsschutzjahresberichts 2023 hat Innenminister Thomas Strobl (CDU) vor der Gefahr durch Extremismus gewarnt. Sie sei so hoch wie nie zuvor. "Die Bedrohungen, mit denen wir es zu tun haben, sind komplex und unterschiedlich vielfältig", so Strobl. Sogenannte Reichsbürger gehörten ebenso dazu wie rechts- und linksextremistische Strömungen bis hin zu religiösem Fanatismus und Spionageaktivitäten ausländischer Staaten.
Extremisten nutzten vor allem die sozialen Medien, um ihre Ideologien zu verbreiten. "Diese digitale Radikalisierung führt zu einer Verbreitung von Hass und Gewalt, die nicht nur einzelne Bürgerinnen und Bürger bedrohen, sondern auch den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft", warnte der Landesinnenminister.
Verfassungsschutz-Chefin: "Abstraktes, aber reales Bedrohungsszenario"
Auch die Präsidentin des Landesamtes für Verfassungsschutz, Beate Bube, hält den islamistischen Extremismus und Terrorismus für so präsent und gefährlich wie seit Jahren nicht mehr. "Wir schätzen derzeit die Gefahr eines islamistisch motivierten Anschlags als abstraktes, aber als ein reales Bedrohungsszenario ein", sagte Bube.
Dschihadistisch motivierte Einzelakteure und Kleinstgruppen griffen zu einfachsten Mitteln. Das habe aus Sicht Bubes der tödliche Messerangriff eines mutmaßlichen Islamisten auf einen Polizisten in Mannheim ebenso vor Augen geführt wie die Anschlagsplanungen von Jugendlichen aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.
Israel-Gaza-Krieg als Grund für antisemitische Straftaten
Die aktuellen Entwicklungen unter anderem in Israel und dem Gazastreifen dienten als moralische Rechtfertigung für zum Teil schwerste Straftaten. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober habe es laut Verfassungsschutzbericht allein bis Dezember letzten Jahres 317 antisemitische Straftaten gegeben. In 2022 waren es im gesamten Jahr 245. Der Islamismus habe nicht an Relevanz verloren, sondern er sei derzeit wieder eine der großen Gefahren, warnte Bube.
Drohungen kurz vor der Fußball-EM
Kurz vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft machte der Verfassungsschutz noch einmal auf Drohungen von islamistischen Terroristen aufmerksam. So hat der IS-Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan" anlässlich der Fußball-EM offene Drohungen veröffentlicht: In einem Propagandamagazin ist ein bewaffneter Kämpfer in einem Stadion zu sehen. Dazu gibt es einen Hinweis auf die EM-Austragungsorte Berlin, Dortmund und München.
Die Verfassungsschutzpräsidentin erklärte, es gebe zwar keine konkreten Hinweise auf Anschläge, allerdings würden im Internet bezogen auf die EM-Pläne durchgespielt. Jedes Großereignis sei für Extremisten eine Plattform, um ihre Botschaften zu verbreiten. Dies könne radikalisierend auf Einzeltäter wirken. Der Verfassungsschutz arbeitet bei der EM in einer Sonderorganisation mit der Polizei zusammen.
"Nicht aus Angst zu Hause bleiben" Verfassungsschutz: Islamisten werben für Anschläge bei EURO 2024
Tolle Spiele und gute Laune - darauf freuen sich Fußballfans bei der Heim-EM. Stuttgart ist Spielstätte. Auch Islamisten haben das Turnier im Visier - sie werben für Anschläge.
Verfassungsschutzbericht: Mehr "Reichsbürger" in Baden-Württemberg
Aber nicht nur die Islamisten-Szene bereitet den Verfassungsschützern im Land Sorge, sondern auch die zunehmende Zahl der sogenannten Reichsbürger - und Reichsbürgerinnen. Denn unter den mittlerweile insgesamt rund 4.000 erfassten Anhängern sei der Frauenanteil auffällig hoch, heißt es im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2023. Im vergangenen Jahr seien 200 Männer und Frauen dazugekommen, die die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen.
Lag der Frauenanteil bislang bei etwas weniger als einem Drittel, so legte er laut der Behörde im Vergleich zum Vorjahr deutlich auf 38 Prozent zu. Ursache dürfte vor allem die Zeit der Corona-Proteste sein, analysieren die Verfassungsschützer.
Die gesamte Bewegung gilt als sicherheitsgefährdend und wird seit Herbst 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet. Bundesweit wird die Zahl der "Reichsbürger" auf mehr als 23.000 geschätzt. Das Landesamt stuft rund zehn Prozent der baden-württembergischen Anhänger als gewaltorientiert ein.
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Zunehmende Radikalisierung
Ein Teil der Protestbewegung hat sich dem Bericht zufolge auch weiter radikalisiert. Die baden-württembergische Szene bestehe zu drei Vierteln aus Einzelpersonen, rund 25 Prozent hätten sich zusammengeschlossen. Es gebe aber eine hohe Anschlussfähigkeit zu anderen Milieus, wie dem der sogenannten Querdenker. Der Bericht führt zudem Mischszenen unterschiedlicher extremistischer Strömungen auf. So würden beispielsweise Ansichten der "Reichsbürger" mit jenen der antisemitischen und staatsfeindlichen QAnon-Bewegung angereichert. Diese Szenen, deren Erzählungen sich zum Teil leicht kombinieren und erweitern ließen, erreichten und beeinflussten auch die demokratische Mitte, warnen die Verfassungsschützer.
Derzeit sorgen wiederholte Durchsuchungen im Zusammenhang mit der mutmaßlichen Terrorgruppe um den "Reichsbürger"-Ideologen Heinrich XIII. Prinz Reuß für Schlagzeilen. Zuletzt waren Beamte des Bundeskriminalamts und der Landespolizei Baden-Württemberg unter anderem in einem Waldgebiet bei Bad Teinach-Zavelstein (Kreis Calw) im Einsatz. Bei einer Razzia in drei Bundesländern gegen mutmaßliche Unterstützer der "Reichsbürger"-Gruppe hatte ein Großaufgebot der Polizei insgesamt sieben Objekte und drei Grundstücke in Baden-Württemberg, Sachsen und Schleswig-Holstein durchsucht.
Öffentlich bekanntgeworden war die Gruppe um Prinz Reuß infolge einer großangelegten Anti-Terror-Razzia Ende 2022. Dutzende Menschen wurden seitdem in dem Zusammenhang festgenommen. An den Oberlandesgerichten Frankfurt am Main und Stuttgart laufen schon Prozesse dazu.
Fall Prinz Reuß Durchsuchungen gehen weiter: Razzia in der "Reichsbürger"-Szene im Landkreis Calw
Am Mittwoch hat es weitere Durchsuchungen im Landkreis Calw in der "Reichsbürger"-Szene gegeben. Beamte waren in einem Waldgebiet bei Bad Teinach-Zavelstein im Einsatz.