"Tat aus Verzweiflung"

Mord-Prozess: Angeklagter gesteht Schüsse bei Mercedes in Sindelfingen

Stand
Autor/in
Philipp Pfäfflin
Bild von Philipp Pfäfflin
Christian Spöcker
Christian Spöcker, SWR

Am 11. Mai 2023 fallen im Mercedes-Benz-Werk in Sindelfingen Schüsse. Zwei Menschen sterben. Der Angeklagte bedauert die Tat vor Gericht und sagt, er sei gemobbt worden.

Ein ehemaliger Beschäftigter im Mercedes-Benz-Werk in Sindelfingen (Kreis Böblingen) hat am Donnerstag vor dem Stuttgarter Landgericht eingeräumt, zwei Vorgesetzte erschossen zu haben. Der zur Tatzeit 53-Jährige ließ über einen seiner Anwälte mitteilen, er bedauere die Tat und er würde die Zeit am liebsten zurückdrehen. Als Motiv für die Schüsse gab er an, er habe sich gemobbt gefühlt und Angst um seine Zukunft gehabt.

Angeklagter bezeichnet sich als Erdoğan-Kritiker

Der Angeklagte ist türkischer Staatsangehöriger, auch die beiden Getöteten waren Türken. Das spielte nach Angaben des Mannes auch bei dem Konflikt eine Rolle, der schließlich in den tödlichen Schüssen endete. Er selbst sei ein Kritiker des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und dessen Regierung, ließ der Angeklagte mitteilen. Weil er deswegen in der Vergangenheit mit dem Tod bedroht worden sei, habe er immer eine Waffe mit sich geführt.

Wegen seiner Haltung seien in der Türkei mehrere Verfahren gegen ihn im Gang und das türkische Konsulat habe deswegen seinen Pass nicht verlängert, hieß es in der Erklärung des Angeklagten weiter. Seine damaligen Vorgesetzten seien hingegen "regierungstreu" gewesen. Sie hätten ihn immer wieder gemobbt, er habe es ihnen "nie recht machen können", behauptete der Mann weiter.

Angebliches Motiv: Mobbing und Angst vor Zukunft

Er sei bei dem Logistikunternehmen, das für Mercedes-Benz arbeitet, noch in der Probezeit gewesen. Durch das Mobbing habe er befürchtet, ohne den Job Deutschland verlassen und zurück in die Türkei zu müssen - und dort schließlich vor Gericht zu landen. Am Tag der Tat habe es mit den beiden Vorgesetzten wieder Streit über seine Arbeit gegeben. Der Angeklagte behauptet, einer der beiden habe gesagt, er müsse "morgen nicht mehr kommen". Die Schüsse auf die beiden Vorgesetzten seien eine "Tat aus Verzweiflung" gewesen, die er im "Blackout" ausgeführt habe.

Der Besucherandrang im Stuttgarter Landgericht war am Donnerstagvormittag groß. Für den Prozess gelten hohe Sicherheitsvorkehrungen. Angehörige eines Opfers trugen T-Shirts mit einem Foto des Getöteten und waren teils sichtlich aufgewühlt. Als der Angeklagte aus dem Saal geführt wurde, beschimpften ihn einige der Zuschauer.

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Schüsse in "Factory 56" in Sindelfingen

Der Angeklagte soll am Vormittag des 11. Mai die Produktionshalle "Factory 56" betreten und auf die beiden Opfer geschossen haben. Sowohl sie wie auch der Angeklagte waren bei einem Logistikunternehmen auf dem Gelände des Automobilherstellers beschäftigt. Einer der beiden starb vor Ort, der andere im Krankenhaus. Der Mann habe heimtückisch und aus nächster Nähe geschossen, wirft ihm die Staatsanwaltschaft vor. Sie hat Anklage wegen zweifachen Mordes erhoben.

Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass sich der Angeklagte die Pistole illegal beschafft hatte. Einen Waffenschein besaß er nicht. Der Mann war noch vor Ort vom Werksschutz überwältigt worden. Er ließ sich ohne Widerstand festnehmen und kam in Untersuchungshaft.

Oberbürgermeister: Große Verunsicherung in Sindelfingen

Der Fall hatte zu großer Verunsicherung in Sindelfingen geführt, berichtete Oberbürgermeister Bernd Vöhringer (CDU) nach der Tat. "Das ist eine ganz enge Verbindung von Werk und Stadt." Mercedes-Benz hatte in der betroffenen Produktionshalle die Arbeit mehrere Tage ruhen lassen. Es gab eine Gedenkminute sowie mehrere weitere Veranstaltungen auf dem Mercedes-Benz-Werksgelände. Mitarbeitende konnten sich an Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger sowie medizinisches Personal wenden. In die örtliche Moschee kamen zwei Tage nach der Bluttat rund 1.000 Personen zu einem Trauergebet.

Auch sechs Monate nach den tödlichen Schüssen hält nach Mercedes-Benz-Informationen die Bestürzung und Trauer über den Vorfall an. Kurz vor Prozessbeginn teilte das Unternehmen dem SWR mit: "Wir hoffen, dass der Gerichtsprozess insbesondere den Angehörigen und Freunden der Opfer sowie auch allen Kolleginnen und Kollegen Klarheit über die offenen Fragen bringen wird." Ähnlich äußerten sich Mitarbeitende bei einer SWR-Umfrage vor dem Werkstor am Mittwoch. So sagte ein Mitarbeiter: "Verarbeiten ist ganz schwierig. Vor allem wenn man das Ganze nochmals Revue passieren lässt. Das ist eine schwierige Situation für die Familienangehörigen, immer noch." Ein anderer wünschte sich, dass das "nie wieder passiert".

35.000 Menschen arbeiten bei Mercedes-Benz in Sindelfingen

Das Mercedes-Benz-Werk in Sindelfingen gilt mit seiner mehr als hundertjährigen Geschichte als der traditionsreichste Produktionsstandort des Autobauers. Dort arbeiten rund 35.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Neben der Mercedes-E-Klasse werden in Sindelfingen auch die S-Klasse sowie deren elektrisches Pendant EQS gefertigt. Die 2020 gebaute "Factory 56" gilt als eine der modernsten Montagehallen der Welt.

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