"Der Professor hat mich aufgefordert, ihn unter dem Gürtel fest zu drücken." "Der Dozent fragt, wie weit ich sexuell mit Männern gegangen bin. Das sei wichtig, um die musikalischen Werke zu verstehen." "Die Dozentin hat in meinen Ausschnitt geschaut und gefragt, ob ich Brustbehaarung habe." Nüchtern und ruhig trägt eine Sprecherin die Zitate vor. Dazwischen erklingt ein Cello. Kurz und abgehackt zupft die Cellistin die Seiten. Dann streicht sie laut und wild. Es klingt wütend.
Eigene Erfahrungen mit Machtmissbrauch an der Musikhochschule
Die Variationen über das Volkslied "Sah ein Knab ein Röslein stehen" hat Laetitia Feige komponiert. Sie gehören zu ihrer künstlerischen Abschlussarbeit, genau wie der Vortrag. Er besteht aus Antworten auf eine Umfrage, die sie an ihre Studienkolleginnen und -kollegen verschickt hat. Sie gibt an, 177 Rückmeldungen bekommen und ausgewertet zu haben. Insgesamt studieren rund 800 junge Frauen und Männer an der Hochschule für Musik und Darstellenden Kunst in Stuttgart.
Laetitia Feige ist 25 Jahre alt. Sie kommt aus Herrenberg (Kreis Böblingen). An der Musikhochschule Stuttgart studiert sie für das Lehramt am Gymnasium mit Hauptfach Gesang. Sie sagt, sie habe selbst Machtmissbrauch erlebt während ihres Studiums. Die Abschlussarbeit sei ihr Weg, das Erlebte aufzuarbeiten. Außerdem wolle sie anderen ein Sprachrohr bieten, die aus Angst vor Konsequenzen nicht öffentlich sprechen könnten.
Anfassen und Anstarren während des Unterrichts
Immer wieder geht es im Vortrag um Anmerkungen zum Aussehen der Studierenden, zu Kleidung und Frisur. Studierende hätten sich angebaggert gefühlt, es gebe sexistische Kommentare und starrende Blicke. "Reiß Dich zusammen und spiel nicht so schwul", habe die Lehrperson beim Instrumentalspiel gesagt. Das habe nachhaltige Folgen auf das Gefühl des Studierenden beim Musizieren gehabt. "Bin im Gesangsunterricht im Intimbereich angefasst worden. Angeblich wegen der Atemtechnik" – so ein weiteres Zitat aus dem Vortrag.
"Dass man im Gesangsunterricht einen Schüler berührt, kann notwendig sein", merkt eine Zuhörerin der Performance an. Aber das müsse besprochen werden, die Grenzen müssten klar sein. Und das scheint häufig nicht der Fall zu sein, wenn man der Abschlussperformance von Laetitia Feige folgt.
Bundesweit wird über Machtmissbrauch an Musikhochschulen diskutiert
Das Thema Machtmissbrauch wird nicht nur in Stuttgart an der Musikhochschule diskutiert. Im Mai dieses Jahres hat die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen ein Positionspapier zum Umgang mit Machtmissbrauch verfasst. Darin heißt es: "Die deutschen Musikhochschulen erkennen an, dass an ihren Hochschulen Machtmissbrauch stattfindet." Seit 2016 werde deshalb ein intensiver Diskurs zu den Themen Machtmissbrauch, Diskriminierung und insbesondere sexualisierter Gewalt geführt.
Bereits im vergangenen Jahr gab es eine bundesweite Umfrage unter Studierenden an Musikhochschulen. Mit ähnlichen Ergebnissen wie in Stuttgart. Als Gründe für Übergriffe und unsensibles Verhalten wird von Studierendenvertretungen die besondere Unterrichtssituation an Musikhochschulen genannt. Studierende haben in der Regel Einzelunterricht oder Lektionen in Kleingruppen. Für die musikalische Karriere seien sie auf gute Bewertungen und die Vermittlung durch Professoren und Dozenten angewiesen. Durch das persönliche Verhältnis von Studierenden und Dozierenden ergebe sich ein Umfeld, das Übergriffe und Machtmissbrauch begünstige, heißt es in einem Forderungskatalog, den auch der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) der Musikhochschule Stuttgart unterschrieben hat.
Musikhochschule: Angebote in Stuttgart wenig angenommen
Professor Matthias Hermann betreut die Bachelorarbeit von Laetitia Feige. Er zählt auf, was es bereits an Angeboten für Studierenden gebe: Vertrauensdozenten, Sprechstunden, moderierte Gespräche, Treffen mit Vertretern der Studierenden. All dies reiche jedoch nicht, wie die Performance seiner Studentin zeige. "Es macht mich besorgt, dass wir noch nicht die richtigen Tools gefunden haben, damit all das adressiert werden kann", erklärt er. Die Aufgabe der Musikhochschule sei es jetzt weiterzumachen und ein Klima zu schaffen, in dem Studierende sich äußern könnten, ihnen einen geschützten Raum anzubieten.
Allerdings würden bisher Angebote der Hochschule wenig angenommen. Zu einem Workshop über gewaltfreie Kommunikation seien zum Beispiel nur wenige Interessenten gekommen.
Großer Andrang bei der Performance in Stuttgart
Umso größer ist das Interesse an der Vorstellung von Laetitia Feige. Der Saal in der Musikhochschule ist voll, die Stühle reichen nicht aus. Ungefähr 100 Menschen sind da, von der Hochschule und von außerhalb. "Gut, dass so viele gekommen sind“, sagt eine Dozentin. Sie hofft, dass diese Arbeit an der Hochschule ernst genommen werde und dass sich dadurch etwas verändere.
Eine andere Zuhörerin erklärt, es sei gut, sich bewusst zu machen, dass MeToo nicht da anfange, wo vergewaltigt oder DickPics verschickt werden, sondern da, wo Persönlichkeitsrechte angegriffen würden.
Belastende Äußerungen im Unterricht
Oft scheinen es verbale Äußerungen zu sein, die bei Studierenden ein Gefühl des "ausgeliefert seins" befördern. Die Sprecherin trägt vor: "Eine Dozentin hat mich im Gesangsunterricht ausgelacht und nachgemacht, wie ich singe." "Der Dozent hat gesagt, Sie sind so schön, Sie müssen das nicht verstehen."
Aber auch sexuell übergriffige Situationen scheint es zu geben. "Im Einzelunterricht hat der Dozent gesagt, er wolle mit mir schlafen." "Im Gruppenunterricht stand ich vorne und trug etwas vor. Meine Klasse hat 'heimlich' darüber gesprochen, wer mich alles gerne ficken möchte. Mein Dozent hat nichts gesagt oder getan."
Studentin Feige: "Froh, dass ich es gemacht habe"
Nach dem Vortrag wird Laetitia Feige von vielen Menschen umringt, sie wird umarmt. Manche bedanken sich bei ihr. In ihrer Bachelorarbeit hat sie ein Tabu-Thema öffentlich gemacht. Das sei nicht immer einfach gewesen, sagt sie. Vor allem in den letzten Tagen vor dem Vortrag sei es ihr schlecht gegangen. "Ich hatte große Angst und habe viel geweint", erklärt sie. Aber dazwischen habe sie große Kraftschübe gehabt. Und sie sei froh, dass sie Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt an der Musikhochschule zum Thema gemacht habe. Sie habe damit auch für sich damit aufgeräumt.
Auf die Frage, warum sie nicht die Anlaufstellen an der Hochschule aufgesucht habe, als sie Probleme hatte, sagt sie, sie habe sich nicht getraut. Inzwischen wisse sie aber, dass sie sich auch an Dozentinnen und Dozenten wenden könne, wie an ihren Betreuer, Professor Hermann. Ihre Hoffnung: Vielleicht habe ich anderen Studierenden mit meiner Arbeit Mut gemacht und es trauen sich mehr über ihre Erfahrungen zu sprechen.