Nach dem Großeinsatz der Rettungskräfte Mitte Dezember 2023 am Marienplatz ist jetzt der Hintergrund klar. Laut Polizei haben Unbekannte sogenannte Etching-Graffiti an die Wände von mehreren Stadtbahn-Haltestellen in Stuttgart gemalt. Dabei wird ein Schriftzug mit Säure in Oberflächen eingeätzt. Laut einem Sprecher der Polizei war dies das erste Mal, dass man "so etwas in Stuttgart gesehen" habe.
Zwei Stunden lang konnte die U-Bahn die Haltestelle Marienplatz vergangenen Freitag nicht anfahren. So lange brauchten die rund 60 Einsatzkräfte der Feuerwehr, um die betroffenen Flächen mit Wasser zu reinigen und den Ort nach Luftmessungen wieder für die Öffentlichkeit freizugeben. Am Montag bestätigte die Polizei, dass es sich bei der "ätzenden Flüssigkeit" um stark verdünnte Flusssäure gehalten hat. Weil die Konzentration gering war, sei niemand verletzt worden.
Etching: Malen mit giftiger Säure
Beim Etching füllen Graffiti-Künstlerinnen und -Künstler spezielle Säuren in Lack-Marker, um dann ihre Kürzel - diese werden Tags genannt - auf Glas- und Metallflächen zu malen, erklärt Nils Urbanke vom Graffiti-Geschäft "CLRZ" in Stuttgart. Malen sei allerdings nicht der richtige Begriff, betont der Inhaber des Graffiti-Geschäfts. "Die Säuren sind erstmal farblos, aber nach kurzer Zeit ätzen die sich in das Material und hinterlassen dann eine trübe Farbspur." Diese Spur sei dann kaum noch zu entfernen, sagt Urbanke. Laut dem Fachhändler gibt es zwar auch legale Etching-Mittel, aber Sprüherinnen und Sprüher mischten sich häufig eigene Mixturen zusammen. Diese seien dann in ihrer Konzentration deutlich ätzender und im Zweifel auch gefährlicher.
So verursacht Flusssäure, auch Fluorwasserstoffsäure genannt, bei Kontakt oder beim Einatmen starke Verätzungen auf der Haut sowie in den Schleimhäuten. Laut Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kann Flusssäure je nach Konzentration und Kontaktstärke sogar tödlich sein. Bereits der Kontakt mit wenigen Millilitern macht eine Einlieferung auf die Intensivstation notwendig. Darum gilt das Verwenden von Flusssäure im öffentlichen Raum in Deutschland als Straftatbestand.
Stadtbahn-Verkehr zeitweise unterbrochen Stuttgart: Großeinsatz am Marienplatz wegen unbekannter Flüssigkeit
Am Stuttgarter Marienplatz gab es am Freitag einen Großeinsatz der Feuerwehr. Eine unbekannte Flüssigkeit war gefunden worden. Der Stadtbahn- und Straßenverkehr musste kurzfristig unterbrochen werden.
Graffiti-Szene ist gespalten
Aus diesem Grund ist Etching laut Urbanke in der Szene auch stark umstritten. So gebe es Künstlerinnen und Künstler, "die Etching für gefährlich halten und für die es nur von Profis umgesetzt werden sollte". Andere Sprüherinnen und Sprüher wiederum wendeten die Methode gerne an, weil "dann ihre Tags länger halten".
Bei seinen Kundinnen und Kunden sei Etching kein großes Thema, sagt der Graffiti-Laden-Inhaber. Er persönlich halte die Technik für gefährlich, darum habe er dafür nichts im Sortiment. Unabhängig vom Etching "gibt es aber auch Farbmarker, bei denen die Spur wie bei der Säure-Technik erst nach wenigen Minuten sichtbar wird". Vereinzelt hätten zwar Leute im Laden nach Etching-Produkten gefragt, aber insgesamt habe er nicht das Gefühl, dass die Säure-Technik "ein großes Ding" in Stuttgart sei, so Urbanke.
Erster polizeibekannter Etching-Fall in Stuttgart
Das mag erklären, wieso man sich auch bei der Polizei zunächst nicht sicher war, was es mit der Flüssigkeit auf sich hatte. Wie ein Sprecher der Polizei Stuttgart gegenüber dem SWR betonte, hat es bis dato keinen bekannten Etching-Fall oder -Versuch in der Stadt gegeben. In Berlin oder auch München wiederum kam es in der Vergangenheit immer wieder zu Fällen, in denen Sprüherinnen und Sprüher mit Flusssäure Etching-Graffiti gemalt hatten.
Seit dem Vorfall vom vergangenen Freitag wurden Samstagvormittag ähnliche Schäden auch an den S-Bahn-Haltestellen Schwabstraße und Feuersee entdeckt, woraufhin die Bundespolizei die Ermittlungen aufgenommen hat. An der Stadtbahn-Haltestelle Österreichischer Platz wurden ebenfalls Spuren von Etching-Graffiti entdeckt.