Der Inspekteur der Polizei - er ist der ranghöchste Polizist im Land - soll eine untergebene Kollegin sexuell genötigt und seine Macht missbraucht haben. Er steht deshalb gerade vor Gericht. Haben solche Fälle bei der Polizei System oder werden zumindest strukturell begünstigt? Ja, sagt eine inzwischen pensionierte Polizistin, die unsere Autorin getroffen hat. Sie will anonym bleiben, auch wenn sie nichts mehr zu befürchten hat. Sprechen aber will sie - das sei sie ihren Kolleginnen, die Ähnliches erlebt haben, schuldig, sagt sie.
40 Jahre lang war Christina (Name von der Redaktion geändert) bei der Polizei. Als eine der ersten Frauen in Baden-Württemberg. Sie wollte damals zeigen: Den Männerberuf können Frauen genauso gut. Willkommen fühlte sie sich nicht.
Sexismus an der Tagesordnung - Übergriff nach dem Dienstsport
Eigentlich mochte Christina ihren Job bei der Kriminalpolizei. Doch sexistische Bemerkungen erlebte sie tagtäglich. Irgendwann kam es zum Übergriff durch ihren Chef. Es passierte nach dem Dienstsport im Schwimmbad, als sich alle gemeinsam im Whirlpool erholten.
Experte: System begünstigt Sexismus
Auch ein zweites Mal versuchte ihr Vorgesetzter, mit ihr anzubandeln. Als das nicht funktionierte, begann er, sie klein zu halten: Arbeiten an Brückentagen, mittelmäßige Zeugnisse, permanente Kritik. Christina beschreibt das Gefühl, das sie dabei verspürte, als absolute Machtlosigkeit und Demütigung. Sie wehrte sich - doch der Chef wurde lediglich versetzt. Ein Einzelfall, der lange zurückliegt? Nein, sagt Polizeiforscher Rafael Behr von der Akademie der Polizei in Hamburg. Das System begünstige Sexismus.
Polizeiforscher Behr ist davon überzeugt, dass sexuelle Belästigung bei der Polizei mindestens strukturell begünstigt wird. "Die Tradition der Polizei ist maskulin bestimmt und das hat sehr viel mit männlicher Macht zu tun, dass diese Dinge passieren können." Das bedeute, so Behr, dass es Strukturen gebe, die Männer schützen. Weil diese andere Männer kennen, die Vorfälle relativieren. Frauen seien in der Minderheit, das bedeute, dass sie viel schlechter auf Netzwerke zurückgreifen könnten.
Hier lesen Sie ein Interview mit dem Polizeiforscher:
Vorwürfe sexueller Nötigung gegen Inspekteur #MeToo-Fall bei BW-Polizei: Einzelfall oder strukturelles Problem?
Sexuell übergriffiges Verhalten durch Vorgesetzte habe viel mit Macht und Abhängigkeiten innerhalb der Polizei zu tun. Das erklärt Polizeiforscher Rafael Behr im SWR-Interview zur BW-Polizei-Affäre.
29 Fälle sexueller Belästigung bei BW-Polizei 2022 gemeldet
Im vergangenen Jahr sind innerhalb der Polizei in Baden-Württemberg 29 Fälle von sexueller Belästigung gemeldet worden. Das geht aus Zahlen des Innenministeriums hervor, die dem SWR vorliegen. Nach Bekanntwerden des prominenten Falls des Inspekteurs der Polizei habe es mehr Meldungen gegeben, so das Innenministerium.
Für das Innenministerium ist der Anstieg der Meldungen ein gutes Zeichen. Das zeige, dass Verfehlungen nicht mehr unter den Teppich gekehrt würden oder als vermeintlich "dummer Spruch" abgetan würden. Bei 6 der gemeldeten 29 Fälle aus dem vergangenen Jahr soll ein Vorgesetzter sexuell belästigt haben - wie im Fall des Inspekteurs der Polizei. 20-mal wurde ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet. 13-mal hatten die mutmaßlichen Belästigungen disziplinarrechtliche Konsequenzen. Seit 2019 ist die Zahl der gemeldeten Fälle immer weiter gestiegen: 2019 wurden noch 7 Fälle gemeldet, 2020 waren es dann 10 und 2021 bereits 19 Fälle.
Das Innenministerium hat nach eigenen Angaben mit mehreren Gegenmaßnahmen reagiert. Dazu zählen unter anderem regelmäßige anonyme Abfragen bei allen Dienststellen, Schulungen für Führungskräfte oder der künftige Einsatz einer Vertrauensanwältin.
Rüttelt der Fall des obersten Polizisten die Landespolizei auf?
Die Bürgerbeauftragte des Landes, Beate Böhlen, ist auch unabhängige Ansprechpartnerin für Polizistinnen - losgelöst vom Innenministerium. Sie kritisiert: Polizei und Innenministerium ließen zu wenig Hilfe von außen zu.
Die Gegenmaßnahmen des Innenministeriums sind für Böhlen zwar erste wichtige Schritte. Ihrer Ansicht nach müssten aber tradierte Machtstrukturen aufgebrochen werden. Es brauche eine Fehlerkultur, mit der auch zugegeben werden könne, dass Fehler gemacht wurden. Sie kritisiert zudem, dass unabhängige Stellen wie ihre nicht genug beworben würden.
Sexismus bei der Polizei: Betroffene hat keinen Wandel erlebt
Auch Christina, die ehemalige Polizistin, wusste damals nicht, wohin sie sich wenden sollte. Nicht der Übergriff durch ihren Chef im Whirlpool, sondern der tägliche Sexismus war für sie das Belastendste.
Sie sagt, dass sich auch die Frauen innerhalb der Polizei mehr zur Wehr setzen müssten. Das passiere zu wenig.
Bei der Polizei wurden Frauen während ihrer Laufbahn eher ernst genommen und anerkannt, wenn sich den Umgangsformen anpassten, auch mal einen groben Witz rissen oder den Schlag auf den Po wegsteckten. So beschreibt die pensionierte Polizistin das Klima damals. Wem das nicht gepasst habe, der habe den Job wechseln müssen. Die Polizei sei ein geschlossenes System. Sie hat es bei der Polizei trotzdem bis zur Rente durchgezogen.