Ostfildern im Landkreis Esslingen: Hier hat die Polizei an Ostern einen 16-Jährigen festgenommen. Er soll gemeinsam mit drei Komplizen aus Nordrhein-Westfalen Anschläge im Namen der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) geplant haben - in einer Chatgruppe. Neben Orten in Nordrhein-Westfalen stand auch Stuttgart offenbar auf der Liste der möglichen Anschlagsorte, wie aus einem vertraulichen Bericht des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU) an den NRW-Landtag hervorgeht.
Ratlosigkeit in Ostfildern über Radikalisierung von 16-Jährigem
Wie konnte sich ein Jugendlicher derart radikalisieren? Auch die Sozialarbeiter des Kreisjugendrings im Kreis Esslingen stellen sich diese Frage. Manche von ihnen arbeiten in Ostfildern, kennen den mutmaßlichen IS-Anhänger, der inzwischen in Untersuchungshaft sitzt.
"Was haben wir vielleicht auch als Sozialarbeiter falsch gemacht, was haben wir als Politik falsch gemacht? Wenn wir als Gesellschaft nicht in der Lage sind, ein 16-jähriges Kind vor irgendwelchen durchgeknallten Salafisten schützen zu können", erklärt Sozialarbeiter Tolga Anlaş.
Er und seine Kolleginnen und Kollegen sehen den 16-Jährigen aber nicht nur als Gefahr, sondern auch als Kind, dessen Name jetzt in den Medien kursiert. Sozialarbeiterin Fatma Kahraman berichtet von einer Kollegin, die versucht, zu dem mutmaßlichen Attentatsplaner in U-Haft Kontakt zu halten.
"Es ist schwierig", sagt sie - auch für die Familie des jungen Mannes. "Wie kommt es dazu, dass sich Kinder und Jugendliche gerade in diesem Alter diesen Weg suchen?", fragt sich Kahraman. Das Internet spiele eine entscheidende Rolle, da sind sich die Sozialarbeiter einig.
"Islam-Fluencer" im Internet sprechen gezielt Jugendliche an
Das bestätigt auch das Landesamt für Verfassungsschutz auf SWR-Anfrage: "Salafistische Prediger nutzen gezielt Plattformen, die besonders bei Jugendlichen beliebt sind", erklärt die Behörde. Viele Jugendliche würden "Islam-Fluencern" folgen, erklären die Sozialarbeiter. Menschen, die gezielt muslimische Inhalte auf YouTube, TikTok oder Instagram verbreiten.
Sie zu finden ist nicht besonders schwer. Viele dieser Videos muten harmlos an. Es wird das arabische Alphabet erklärt - oder die islamische Geschichte. Doch es gibt dort auch Inhalte, die verfassungsrechtlich problematisch sind. Etwa auf dem Kanal von "Realität Islam". In einem Video wird erklärt, dass die Scharia, also das islamische Gesetz, über dem Grundgesetz stehen könne. Ob man die Scharia als die bessere Rechtsordnung betrachtet und die hiesigen Gesetze sogar für kompletten Unsinn hält, ist nicht Angelegenheit des Staates oder der Politik.
Der Freiburger Islamwissenschaftler Karim Saleh von der Fachstelle für Extremismusberatung FEX kennt diese und viele andere Videos. Er berät Schulen und Lehrkräfte im Land in Sachen Extremismus, bietet vor allem seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober vergangenen Jahres und dem seitdem laufenden Gaza-Krieg verstärkt Workshops an. "Ich schätze, dass in jeder Schule im Land radikale islamistische Inhalte konsumiert werden", erklärt Saleh, der für die Grünen auch Kommunalpolitiker in Freiburg ist.
Wer sich über den Islam online informieren wolle, lande auf Plattformen wie etwa TikTok schnell auf Inhalten, die radikal, meist salafistisch, geprägt seien. Der Algorithmus der Plattformen tue dann sein Übriges. "Wenn man einmal in der Bubble drin ist, bekommt man diese Inhalte immer wieder vorgeschlagen."
Verhaltensregeln des Islams - aus dem Netz
Ein großes Problem sei, dass die Inhalte auf den ersten Blick nicht gefährlich oder radikal wirkten, so Islamwissenschaftler Saleh. Meist erklären die Influencer dort Verhaltensregeln des Islams, interpretieren etwa den Koran. Dahinter steckt jedoch ein Kalkül, erklärt er: "Es geht aber darum, eine eigene Gruppe zu schaffen mit den eigenen Regeln, eigenen Werten, die sich abgrenzt von der deutschen Mehrheitsgesellschaft."
Das Grundproblem sei, dass viele "Islam-Fluencer" eine Einteilung in Schwarz und Weiß vornähmen, so Saleh, die dann vielleicht zu Ende gedacht irgendwann mal mit Gewalt bekämpft werden müssen, so der Islamwissenschaftler.
Fälle auch in Schulen in BW
Wie viele Jugendliche sich in Baden-Württemberg radikalisiert hätten, ist schwer zu sagen, erklärt das Landesamt für Verfassungsschutz, das keine genauen Zahlen nennen kann. Das Landesamt hat aber festgestellt, dass sich seit einiger Zeit besonders junge Menschen online vernetzen und radikalisieren. So seien in den vergangenen zwei Jahren zahlreiche Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren aufgefallen, die sich in Social-Media-Kanälen mit Jihad-Propaganda, Anschlagsfantasien und Ausreiseplänen beschäftigen würden. Auch in den europäischen Nachbarländern, Australien und den USA seien in den vergangenen Monaten Minderjährige ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten.
Oft sei die Radikalisierung ein schleichender Prozess - wie im Fall eines Schülers irgendwo aus Baden-Württemberg. Seine Lehrerin erzählt von dem Fall, möchte aber anonym bleiben. Der 18-Jährige sei eigentlich immer ein "vernunftgeleiteter" Schüler gewesen, erzählt sie. Doch irgendwann habe er eine selbstgebastelte Palästina-Flagge mitgebracht, daneben einen Koran. Die Hamas habe der junge Mann nicht als extremistische Organisation, sondern als Freiheitsbewegung wahrgenommen. Die Lehrerin hat sich daraufhin an Extremismusberater Saleh gewandt. Irgendwann sei er nur noch unregelmäßig zum Unterricht erschienen.
Über Inhalte reden
Was hilft, sei, das Wissen über den Islam bei Jugendlichen zu stärken, über schwierige Inhalte im Netz offen zu sprechen, sagen auch die Sozialarbeiter im Landkreis Esslingen. Sie schauen jetzt noch genauer hin, wenn Jugendliche ihnen Videos von "Islam-Fluencern" zeigen.
Wichtig sei, sich gemeinsam mit den jungen Menschen mit den Inhalten auseinanderzusetzen. "In die Welt mal hineingucken, ist das, was wir eigentlich leisten sollen, statt zu sagen: Ist nicht gut, leg's weg, guck dir andere Sachen an", erklärt Sozialarbeiterin Fatma Kahraman. Nur so könne man sicherstellen, dass aus einem Interesse an Religion kein Radikalismus werde.
Wie ein Sprecher am Freitag mitteilte, rechnet der baden-württembergische Verfassungsschutz aktuell etwa 4.000 Personen dem Beobachtungsbereich Islamistischer Extremismus und Terrorismus zu.