Tod, Unfall, Verbrechen, Naturkatastrophen

Hilfe in Ausnahmesituationen: Interview mit Notfallnachsorger Michael Genzwürker aus Buchen

Stand
Das Interview führte
Michaela Dymski
Onlinefassung
Philipp Behrens

Betroffene und Überlebende von Schicksalsschlägen befinden sich oft in einem Ausnahmezustand. Dann helfen Notfallnachsorger wie Michael Genzwürker aus Buchen.

Wenn Michael Genzwürker an der Haustüre klingelt, ist es leider kein gutes Zeichen. Als Notfallnachsorger überbringt er Angehörigen die Nachricht, wenn zum Beispiel jemand bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wenn gewünscht, bleibt der 48-Jährige nach einer Todesnachricht erstmal bei den Betroffenen und versucht Trost zu spenden. Der gelernte Sozialpädagoge ist Leiter der "Psychosozialen Notfallversorgung" im Neckar-Odenwald-Kreis. Seit 2006 engagiert er sich als einer von 42 Ehrenamtlichen bei der "PSNV" im Rhein-Odenwald-Kreis. SWR-Reporterin Michaela Dymski mit ihm über seine außergewöhnliche Tätigkeit gesprochen:

SWR Aktuell: Herr Genzwürker, Sie sind ehrenamtlicher Notfallnachsorger. Was machen Sie da genau? Was sind Ihre Aufgaben?

Michael Genzwürker: Wir betreuen zum einen Betroffene nach einem Suizid von Angehörigen oder Hinterbliebene von Opfern eines Verkehrsunfalls. Wir vom Verein "Psychosoziale Notfallversorgung" sind aber auch da, wenn jemand zuhause verstirbt. Es gibt noch zwei weitere große Aufgabenbereiche: Wir überbringen Todesnachrichten an die Angehörigen. Das machen wir zusammen mit der Polizei. Und wir übernehmen die Nachsorge für die jeweiligen Einsatzkräfte. 

SWR Aktuell: Können Sie Beispiele nennen? Ich sage jetzt mal die Stichworte: Hockenheim, Eberbach oder Adelsheim...

Genzwürker: Die Presse hat viel über den Jungen aus Adelsheim berichtet. Der Jugendliche wurde dort von einem Zug erfasst und ist dann gestorben. Das war natürlich ein sehr dramatischer Einsatz. Wir mussten uns um die Familie kümmern. Ebenso um die Mitschüler des Jungen und Schüler einer anderen Schule, die das live miterlebt hatten. Das war ein besonderer Einsatz. Nicht ganz so intensiv war der Einsatz in Mosbach, als der Mediamarkt abgebrannt ist. Da mussten wir uns vom Verein um Bauarbeiter und den Besitzer der Immobilie kümmern.

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SWR Aktuell: Sie sind die erste Hilfe direkt vor Ort, Ansprechpartner für die ersten Stunden. Wie geht es dann weiter, wenn Sie jetzt von den Beispielen erzählen? Wo können sich Betroffene wie jetzt Beispiele Schüler oder auch Eltern dann weiter psychologisch betreuen lassen?

Genzwürker: Wir von der "Psychosozialen Notfallversorgung" sind die Ersthelfer in den ersten Stunden. Aber wir sind keine Therapeuten. Weitere Hilfe kriegen Betroffene dann zum Beispiel in Beratungsstellen wie Caritas und Diakonie. Für Opfer von Gewalttaten ist der "Weiße Ring" eine Anlaufstelle. All diese Einrichtungen können auch langfristige Betreuungen übernehmen. Wir können es nicht. Zum einen fehlt uns da die Ausbildung und zum anderen machen wir das alles ehrenamtlich, da würde uns die Zeit fehlen.

SWR Aktuell: Welche Ausbildung müssen Sie denn abschließen, um in der Notfallnachsorge tätig sein zu dürfen?

Genzwürker: Alle unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter durchlaufen die Ausbildung zum Kriseninterventionshelfer. Das machen wir bei uns über das DRK, das Deutsche Rote Kreuz. Die bieten diese Ausbildung an und wir sind ja eine Kooperation aus Feuerwehr, DRK und Kirchen. Für die Einsatzkräfte gibt es dann weitere Lehrgänge an der Landesfeuerwehrschule oder eben auch durch entsprechende Organisationen, die speziell für die Betreuung von Einsatzkräften ausbilden.

SWR Aktuell: Welche Voraussetzungen sind denn nötig?

Genzwürker: Man muss mindestens 25 Jahre alt sein. Und man sollte privat sicher im Leben stehen. Beides ist wichtig, weil wir für andere da sein sollen. Das geht nicht, wenn man selbst Betreuung braucht. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man eine pädagogische Grundausbildung mitbringt. Das ist aber kein Muss. Lehrer haben wir und viele Pädagogen. Wir haben aber auch Mitarbeiter aus dem Jugendamt oder von der Feuerwehr. Einige haben ein Handwerk gelernt. Es kann im Grunde jeder werden, der bereit ist, sich mit Menschen auseinanderzusetzen und für andere in dieser Situation da zu sein.

SWR Aktuell: Wo holen Sie sich Hilfe, wenn Einsätze auch mal besonders belastend sind? Mit wem sprechen Sie?

Genzwürker: Wir haben untereinander ein System und eine Vereinbarung, dass jeder aus der Gruppe jeden zu jeder Zeit anrufen kann, wenn er im Einsatz war. Wenn er ein Gespräch braucht, um sich zu entlasten. Dann machen wir regelmäßige Team-Supervisionen, also Fallbesprechungen innerhalb der Teams. Wir können uns auch externe Berater dazu holen, wenn es notwendig ist.

SWR Aktuell: Sie machen das alles ehrenamtlich. Es gibt also keinen einzigen Cent dafür. Sie müssen Tag und Nacht erreichbar sein, nichts ist planbar. Sie haben kaum Privatleben. Warum machen Sie das?

Genzwürker: Sehr gute Frage: Jeder von uns hat 24 Stunden einen Piepser dabei. Aber bei uns ist ganz wichtig, dass jeder für sich entscheidet: Kann ich das? Habe ich jetzt drei bis vier Stunden Zeit, um mich wirklich darauf einzulassen, jemanden zu betreuen? Oder habe ich die Zeit eben nicht? Fühle ich mich so, dass ich überhaupt anderen helfen kann? Das muss jeder im Vorfeld für sich abwägen. Also: Ich MUSS keinen Einsatz übernehmen. Ich selbst bin über die Feuerwehrschiene dazugekommen. Da wurde ich irgendwann gefragt, weil ich eine sozialpädagogische Ausbildung habe. Natürlich merkt man gerade bei den Einsatzkräften, dass der Bedarf immer höher wird. Wir haben nicht mehr die altgedienten Feuerwehrmänner, die mit einem Schnaps oder einem Bier den Einsatz abschließen. Bei Jugendfeuerwehrleuten gibt es Bedarf. Die suchen das Gespräch und verarbeiten den Einsatz nicht einfach mit Alkohol.

SWR Aktuell: Gibt es einen Einsatz, der ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Genzwürker: Ja, gibt es. Da war damals ein kleines Kind, das verstorben ist. Da war einfach ein persönlicher Bezug, weil es eine sehr große Ähnlichkeit mit meiner Nichte hatte. Und ich hatte in dem Moment gedacht, sie liegt dort. Sobald diese persönliche Betroffenheit da ist, beschäftigt einen das schon lange. Dann wird es auch belastend. Das geht einem auch so, wenn man bei der Notfallseelsorge aktiv ist.

SWR Aktuell: Wie sind Sie damals mit dem Fall umgegangen? Wie konnten Sie sich selbst helfen?

Genzwürker: Ich habe so einen vierbeinigen Therapeuten. Das ist mal ganz gut, wenn man mit ihm dann eine Runde durch den Wald dreht. Aber natürlich rede ich auch mit den anderen Mitgliedern unseres Teams. Wir haben uns zusammengesetzt. Das hatte uns alle mitgenommen. Das ist was anderes, wie wenn jemand im hohen Alter verstirbt. Auch das ist schlimm. Aber bei einem Kind ist es eben etwas Außergewöhnliches. 

SWR Aktuell: Sie betreuen nicht nur Opferfamilien, sondern auch Täterfamilien. Können Sie da auch Beispiel nennen und wie das dann abläuft?

Genzwürker: Vielleicht ein Beispiel, das schon lange zurückliegt. Der Amoklauf in Winnenden. Für die Familie des Täters ist auch eine Welt zusammengebrochen, auch sie haben einen Verlust erlebt. Der Täter ist ja gestorben. Auch da gab es natürlich im Nachhinein Diskussionen. Stellt man für den Täter auch eine Kerze in der Kirche auf oder nicht beim Gedenkgottesdienst? Das ist eine Gratwanderung. Natürlich, man ist neutral und behandelt eine Täterfamilie genauso wie jede andere Person auch. Auch die können nichts dafür, was ihre Angehörigen getan haben. Und natürlich ist es belastend, wenn die Polizei eine Wohnung stürmt, wenn eine Hausdurchsuchung stattfindet. Das reißt einen aus dem normalen Alltag raus. Die Angehörigen von Tätern sind genauso Betroffene oder Opfer. Auch für sie bricht eine Welt zusammen.

SWR Aktuell: Sie haben fast täglich mit Tod und Trauer zu tun, müssen sich um Opfer- und auch die Täterfamilien kümmern. Gibt es trotzdem Bereicherndes an Ihrer Tätigkeit?

Genzwürker: Wir gehen ja in der Regel aus einer Familie raus, wenn wir merken, die Leute sind jetzt wieder handlungsfähig. Also, sie können jetzt wieder den nächsten Schritt planen. Wir versuchen, die Menschen aus dieser Handlungsunfähigkeit und Ohnmacht herauszuholen. Dann kommt auch eine gewisse Dankbarkeit rüber. Die Leute sagen dann: Danke, dass Sie da waren. Das ist das größte Lob, das wir kriegen können.

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