Baden-Württembergs Justizministerin Marion Gentges (CDU) warnt davor, dass sich die Situation bei der Unterbringung von Flüchtlingen weiter zuspitzt. "Angesichts der nach wie vor rapide ansteigenden Zahl von Schutzsuchenden sehen wir uns als Land - und insbesondere unsere Kommunen - aktuell und künftig mit einer ungeheuren Belastungssituation konfrontiert", schrieb sie in einem Brief an Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), der dem SWR vorliegt.
Gentges umriss vor allem drei Problemfelder: Platzmangel bei der Unterbringung der Geflüchteten, Überlastung der Helferinnen und Helfer auf allen Ebenen sowie die Kostenfrage. In diesem Jahr habe Baden-Württemberg bisher knapp 140.000 Menschen aus der Ukraine, fast 23.000 Asylsuchende und 3.000 Menschen im Rahmen der humanitären Hilfe aufgenommen. Mit den insgesamt 166.000 aufgenommenen Menschen habe Baden-Württemberg bereits jetzt 1,6 Mal so viele Personen aufgenommen, wie im Zuge der großen Fluchtbewegungen im Jahr 2015, sagte Gentges dem SWR.
Gentges fordert Lösung auf europäischer Ebene
Die Justizministerin forderte, dass der Bund auf europäischer Ebene dafür sorgen müsse, dass die zugesagte ausgewogene Verteilung der Belastung effektiv umgesetzt werde. Dazu müsse ein effizientes System zur Verteilung der Geflüchteten auf die Mitgliedstaaten geschaffen werden, das nicht nur Umverteilungen ermögliche, sondern auch, dass Menschen zurückgeschickt würden, so Gentges: "Entsprechende Bemühungen des Bundes vermag ich jedoch nicht im Ansatz zu erkennen."
Zuspruch von kommunalen Landesverbänden
Zuspruch erhielt die Justizministerin von den kommunalen Landesverbänden. Die Präsidenten des Landkreis- und Gemeindetages, Joachim Walter und Steffen Jäger, sowie Ralf Broß vom Städtetag meldeten sich mit einer gemeinsamen Pressemitteilung zu Wort. Man unterstütze ausdrücklich Gentges Vorstoß. "Besonders schwierig gestaltet sich die Situation aktuell durch den starken Zugang unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter", heißt es in der Stellungnahme. "Für diesen Personenkreis plädieren die Kommunen für eine zentrale Landeserstaufnahmestelle in Trägerschaft des Landes."
Auch die FDP im Land unterstützte den Vorstoß. Ihr migrationspolitischer Sprecher, Hans Dieter Scheerer, forderte die Ministerin aber auch auf, vor der eigenen Türe zu kehren. Das Land habe die Kommunen bei der Unterbringung von Geflüchteten lange genug im Stich gelassen.
Der migrationspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Daniel Lede Abal, teilte mit, die Landesregierung habe im Koalitionsvertrag eine Flüchtlingspolitik auf Grundlage von Menschlichkeit und Verantwortung vereinbart. Er sei sich sicher, dass Gentges dieser Verantwortung gerecht werde.
SPD fordert mehr Eigeninitiative von Gentges
Der Generalsekretär der baden-württembergischen SPD, Sascha Binder, übte dagegen Kritik. Gentges lasse jegliche Eigeninitiative vermissen. Zudem habe sich die CDU in der Vergangenheit nicht damit hervorgetan, auf eine europaweite Verteilung von Geflüchteten hinzuarbeiten. Daher forderte er: "Insbesondere wäre es notwendig, die vielen Privaten, bei denen nach wie vor die Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten untergebracht ist, angemessen zu unterstützen.“
Scharfe Kritik vom Flüchtlingsrat BW
Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg kritisierte die Forderungen dagegen scharf. Auf SWR-Anfrage teilte er mit, Gentges Forderung sei populistisch und realitätsfern. Seit 2015 seien alle politischen Bemühungen, geflüchtete Menschen in großem Maße in Europa zu verteilen, gescheitert.
Justizministerin Gentges kritisierte in ihrem Brief an Faeser zudem das "Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan". Dieses sieht vor, dass pro Monat bis zu 1.000 Geflüchtete aus Afghanistan in Deutschland aufgenommen werden. Gentges bezeichnet das in ihrem Brief an Faeser als "in keiner Weise verantwortbar".
Bundesprogramm als Reaktion auf die Machtübernahme der Taliban
Das Innen- und das Außenministerium in Berlin hatten Mitte Oktober den Start des Programms verkündet, mit dem man auf die schwierige humanitäre Lage seit der Machtergreifung der militant-islamischen Taliban im August 2021 reagiert. Profitieren sollen demnach afghanische Staatsangehörige in Afghanistan, die sich für Frauen- und Menschenrechte eingesetzt haben oder wegen ihrer Tätigkeit in Justiz, Politik, Medien, Bildung, Kultur, Sport oder Wissenschaft besonders gefährdet sind. Auch Menschen, die wegen ihres Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität, ihrer Religion oder wegen besonderer Umstände des Einzelfalles verfolgt werden.
Bundesimmobilien helfen BW laut Gentges nicht
Auch die vom Bund in Aussicht gestellten Immobilien zur Unterbringung - in ganz Deutschland 56 - würden mit Blick auf Baden-Württemberg nicht helfen, erklärte Gentges. Für die Landeserstaufnahme scheide ein Großteil der Liegenschaften aus, weil sie zu klein seien.
Von den neun genannten Liegenschaften in BW verfüge zudem kaum eine über eine "tragfähige Infrastruktur". Daher könnten diese auch nicht schnell in Betrieb genommen werden. "Gerne sind wir aber bereit, weitere in Baden-Württemberg liegende Bundesliegenschaften auf ihre Geeignetheit für Zwecke der Flüchtlingsunterbringung hin zu prüfen und bitten daher um die Benennung entsprechender Objekte", schrieb Gentges.
Einreise von Geflüchteten über die Schweiz Thema
Darüber hinaus sprach die CDU-Politikerin in ihrem Brief die Einreise von Geflüchteten aus der Schweiz an. So hatten Schweizer Medien unlängst darüber berichtet, dass die Schweiz zahlreiche Geflüchtete mit dem Zug an die Grenze zu Deutschland und Frankreich schicke. Davon wäre Baden-Württemberg unmittelbar betroffen.
Daher schriebt Gentges: "Ich wäre Ihnen daher sehr verbunden, wenn Sie mir Informationen zum aktuellen Vorgehen der Schweizer Behörden zukommen lassen könnten, insbesondere, ob aus Ihrer Sicht Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich die Schweizer Behörden nicht an die Dublin-Ill-Verordnung der EU halten."
Zuvor hatte die Justizministerin bereits beim baden-württembergischen Innenministerium nachgefragt, ob in letzter Zeit mehr Geflüchtete aus der Schweiz ins Land kommen. Das sei wohl der Fall und decke sich auch mit "Erkentnissen, die uns aus dem Grenzbereich gespiegelt werden", heißt es in dem Brief an Faeser.