Lehrermangel, Bildungsdefizite, Unterrichtsausfall

BW-Kabinett auf der Suche nach Lösungen in der Bildungspolitik

Stand
Autor/in
Christian Susanka

Die Landesregierung trifft sich am Montagabend zu einer außerordentlichen Kabinettssitzung. Gesucht werden Wege aus der Schulmisere in Baden-Württemberg in Zeiten knapper Kassen.

Bei dem Sondertreffen des Landeskabinetts am Montagabend steht allein die Bildungspolitik auf dem Programm - und da ganz besonders die Lage in den Grundschulen im Land. Diese hatte zuletzt für einen Aufschrei zahlreicher Verbände gesorgt, nachdem Baden-Württemberg in einem deutschlandweiten Ranking erneut die Spitzenplatzierungen anderen Bundesländern überlassen hatte und sich in vielen Bereichen auf einer Position der Mittelmäßigkeit wiederfindet.

Als Ziel für den Kabinettsabend hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ausgegeben, jenseits der eingefahrenen Lösungsansätze zu denken und damit einen subtilen Hinweis gegeben: Anfang der Achziger Jahre hatte Baden-Württemberg mehr Schülerinnen und Schüler als heute und gleichzeitig weniger Lehrpersonal. In diesem Hinweis steckt die Idee, dass es möglich sein muss, Bildungsqualität zurückzuerobern, ohne dabei viel Geld für deutlich mehr Lehrerinnen und Lehrer in die Hand zu nehmen. Denn die Finanzlage ist schwierig. Bildungsverbände und Gewerkschaften, aber auch unabhängige Experten bezweifeln, dass das möglich ist.

Verschlechterungen in Lesen, Schreiben und Rechnen

Zuletzt hatte die jüngste IQB Studie Mitte Oktober ein erneutes Abfallen der Grundschülerinnen und -schüler im Bundesvergleich festgestellt. Verglichen werden dabei Leistungen von Kindern aus vierten Klassen in ganz Deutschland. Nach Leistungseinbrüchen 2011 und 2016 verschlechterten sich die Grundschülerinnen und -schüler hierzulande erneut, und zwar in allen relevanten Kategorien: Lesen, Schreiben und Rechnen. Außerdem offenbarten baden-württembergische Kinder in Grundschulen neuerdings auch beim Zuhören eine Schwäche.

Den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann dürfte das anhaltend schlechte Abschneiden seiner Schülerschaft gleich in mehrfacher Hinsicht ärgern. Der bekennende Föderalist Kretschmann zeigt oft und deutlich mit dem Finger in Richtung Berlin und beklagt Einmischungen des Bundes. Da macht es ein schlechtes Bild, wenn man in der Bildungspolitik, einem ausgewiesenen Feld mit Landeshoheit, selbst Federn lassen muss. Und das auch noch als ehemaliger Pädagoge.

Nachdem Opposition und Verbände die Entwicklungen im Schulwesen schon seit Jahren kritisieren, scheint es nun so, als ob auch die Landesregierung die Zeichen der Zeit erkennt. Zuletzt hatte die Koalition aus Grün und Schwarz versucht, die Arbeitsbedingungen der Schulrektoren zu verbessern. In den Klassenzimmern selbst bleibt die Situation jedoch schwierig und zuweilen prekär.

Grundschulrektoren im Dauerstress

Für Walter Beyer, Rektor der Grundschule Wald bei Sigmaringen ist es jedenfalls regelmäßig ein mulmiges Gefühl, das ihn gerne bereits am Wochenende heimsucht. "Schon am Sonntagabend fiebert man ein Stück weit hin und man fragt sich: Melden sich wieder Lehrkräfte krank? Gibt es wieder Ausfälle?" Am Montagmorgen könne es dann sehr schnell passieren, dass umgeplant werden müsse, vor allem dann, wenn es keine Krankheitsreserve gebe. Dann bleibt Beyer nichts anderes übrig, als Klassen zusammenzulegen.

Drei oder vier Klassen gleichzeitig unterrichten

Und so berichtet der Pädagoge, der gleichzeitig stellvertretender Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) ist, dass er selbst als Rektor schon drei und vier Klassen gleichzeitig unterrichtet hat. "Das hält man auf Dauer nicht durch", so Beyers Fazit.

"Deswegen schaffen es auch nur die wenigsten Kolleginnen und Kollegen, die Altersgrenze zu erreichen."

Die Grundschullehrerin und stellvertretende Landesvorsitzender der Bildungsgewerkschaft GEW, Ricarda Kaiser, bekräftigt das in einem Gespräch mit dem SWR: In den vergangenenen Jahren habe die Politik die Grundschule kaputtgespart. Dort fehlten vielerorts nicht nur Lehrerinnen und Lehrer. "Es gibt auch keine zusätzlichen Förderstunden mehr, um Leistungsschwachen helfen zu können: Kleingruppen, Förderunterricht für Dyskalkulie, Lese-Rechtschreibschwächen in Zusatzstunden, all das gibt es heute nicht mehr."

Bedarf an individueller Förderung ist gewachsen

Auch der Landeselternbeirat und sein Vorsitzender Michael Mittelstaedt kritisieren diese Entwicklung. Besonders, weil gerade in den vergangenen Jahren der Bedarf an gezielter und individueller Förderung so deutlich gewachsen ist: "Immer heterogener werdende Schülerschaft braucht nicht weniger Lehrer, sondern mehr." Sein Vorwurf: "Man hat gesellschaftliche Veränderungen einfach ignoriert, egal ob Migrationsanteile oder die Realität, dass beide Elternteile berufstätig sind. Man hat da einfach nicht reagiert und nichts gemacht."

Jetzt stehle sich die Politik aus der Verantwortung:  Ukraine, Flüchtlingskrise und der Migrationshintergrund würden als Erklärmuster vorgeschoben für schlechte Leistungswerte, dabei sei die Situation schon allein und ohne diese zusätzlichen Herausforderungen unbefriedigend.

Fakt ist: Angesichts der gestiegenen Belastungen haben in den vergangenen Jahren viele Lehrerinnen und Lehrer ihre Stundenzahl reduziert, um die verbleibenden Unterrichtsstunden besser zu bewältigen und mehr Zeit zu haben, diese auch vorzubereiten. Ministerpräsident Kretschmann und Kultusministerin Schopper hatten in der Folge des Krieges in der Ukraine bereits Ende April gerade solche Lehrkräfte gebeten, ihre Teilzeit wieder zu erweitern. Nach eigenem Bekunden hatten sie damit auch Erfolg.

Quereinsteiger müssen Lücken füllen

Trotzdem: Im Herbst des Jahres 2022 befindet sich das baden-württembergische Schulsystem in einem ausgelaugten Zustand. Nach Monaten der Pandemie offenbart Corona zahlreiche Lücken bei den Schulkindern, und nach wie vor fehlen ausgebildete Lehrkräfte. Egal ob in Südbaden oder auf der Schwäbischen Alb: Vielerorts müssen Schulen immer wieder Lücken mit Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern füllen. Diese sogenannten Nichterfüller helfen zunächst oft in den Vorklassen aus, wo Flüchtlingskinder auf den deutschen Schulunterricht vorbereitet werden sollen, berichtet Christoph Straub vom Grundschulverband. Gleichzeitig gelangten solche Lehrkräfte wegen der Mangelsituation auch immer wieder in den Regelunterricht. Alleine im Zollernalbkreis seien 80 sogenannte Nichterfüller im Einsatz. Straubs Befürchtung: "So etwas muss Qualitätsfolgen haben." Eine ausgebildete Lehrkraft könne eben nicht kompensiert werden durch Personen, die quereinsteigen.

Coronapandemie hat Defizite aufgezeigt

Auch andere Mängel des baden-württembergischen Schulsystems hat die Corona-Krise wie unter einem Brennglas offenbart. Das Fehlen einer landesweiten und leistungsstarken digitalen Lernplattform hatte das Kultusministerium überbrücken müssen und viel Frust auf sich gezogen - nachdem die Landesregierung ein eigenes millionenschweres Auftragsprojekt mit dem Namen Ella in den Sand gesetzt hatte. Die Möglichkeit, mit Hilfe der Digitalisierung an den Schulen wieder an die Spitze der bundesweiten Bildungskompetenz zu kommen, wurde jedenfalls verpasst.

Kritik an mangelnder Dokumentation von Unterrichtsausfall

Doch ein anderer Kritikpunkt ist viel grundsätzlicher: Bildungsverbände und der Landeselternbeirat, aber auch die mächtige Lehrergewerkschaft GEW beklagen, dass das Kultusministerium gar keine Statistik über den tatsächlichen Ausfall von Unterrichtsstunden führt. Zwar werde erfasst, ob eine Lehrkraft krank sei. Ob der eigentliche Unterricht dann aber von einer Fachlehrerin oder einem Fachlehrer oder aber von einer fachfremden Lehrkraft abgehalten werde, das tauche nirgends auf.

Fakt ist: Das Tal des Lehrkräftemangels wird wohl auch in den kommenden zwei Jahren noch nicht ganz durchschritten sein, so die Prognosen des Kultusministeriums. Und solange wird es auch weiterhin eine Mangelverwaltung geben.

Assistenzkräfte sorgen für Entlastung

Bei aller Kritik berichten die Verbände aber auch über Positives: So sei es nach der Corona Krise erfolgreich gelungen, im Rahmen des Nachhilfe-Programms "Rückenwind" neue Assistenzkräfte an die Schulen zu bekommen und diese dort weiterzubeschäftigen. Das sorge für Entlastung bei den Lehrkräften, berichtet auch der Grundschulexperte Christoph Straub. Dieses neue Personal  ermögliche wiederum kurzfristige Lösungen bei Engpässen.

Ziel der Landesregierung ist es jedenfalls, solche niederschwelligen und kurzfristigen Personallösungen auszubauen, unter anderem mit der Idee eines freiwilligen pädagogischen Jahres in Anlehnung an das Freiwillige Soziale Jahr. Im Doppelhaushalt für die beiden kommenden Jahre sind Gelder für dieses Projekt bereits angedacht.

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