Immer am dritten Freitag im November ist bundesweiter Vorlesetag. Für Flüchtlingskinder bieten Spielstuben in Stuttgart das ganze Jahr über Vorlesezeiten an. Das hilft den Kindern auch beim Deutschlernen.
"Hast du mir auf den Kopf gemacht?", fragt Sinja Böcking den vierjährigen Dante aus Georgien. Der lacht herzlich und wiederholt einen Teil des Satzes: "Hast du gemacht?" - "Genau!", bestätigt die Leiterin der Spielstube Stuttgart-Weilimdorf, "Hast du gemacht."
Ja, es geht hier wirklich um Kacka, wie die Kinder sagen. In einem Buch, das die beiden lesen. Die Geschichte "Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat". Dante liest das Buch nun schon zum dritten Mal. Er findet es lustig und ruft immer wieder ganz aufgeregt: "Da ist Kacka und da und da!" Aber eben auch Wörter wie "Hund" oder "schläft", als der Maulwurf den schlafenden Hund trifft. So lernt er spielerisch Deutsch.
Oft einzige Chance zum Deutschlernen
Vorgelesen wird in der sogenannten Spielstube in Stuttgart nicht nur am Vorlesetag, der dieses Jahr bundesweit am 15. November stattfindet. Denn das Vorlesen schafft die Grundlagen für viele weitere Fähigkeiten, die Kinder und Erwachsene im Leben brauchen. Zum Beispiel kann es das Einfühlungsvermögen stärken - und hilft eine Sprache zu lernen. So wie viele der anderen Aktivitäten für Kinder in der Spielstube.
"Für die meisten Kinder, die hier in den Unterkünften leben, ist die Spielstube tatsächlich die einzige Chance, mit der deutschen Sprache in Kontakt zu kommen, weil die meisten Eltern auch kein Deutsch können", erzählt Böcking. Sie leitet die Spielstube in Stuttgart-Weilimdorf. Insgesamt gibt es im ganzen Stadtgebiet Stuttgart 20 sogenannte Spielstuben. Die erste wurde 2018 eröffnet und über das Bundesprogramm "Kita-Einstieg" finanziert. Das endete 2022. Dann übernahm der Stuttgarter Gemeinderat die Kosten und richtete sogar weitere Spielstuben ein. Zweimal die Woche werden direkt in den unterschiedlichen Flüchtlingsunterkünften für jeweils drei Stunden Kinder betreut, die keinen Kita-Platz haben. Insgesamt sind es in Stuttgart 120, in Stuttgart Weilimdorf zehn Kinder.
Abd aus Syrien liest gerne und kann jetzt schon die Farben. Er zeigt sie in einem Buch und erklärt dazu "orange" oder "schwarz". Diana aus der Ukraine mag am liebsten "spielen" und Efsa, die aus der Türkei geflüchtet ist, "klettern".
Flüchtlingskindern ein Stück Alltag geben
Die Kinder haben kein eigenes Zuhause, keinen Kita-Platz, und die meisten werden auch keinen mehr bekommen, weil es nicht genügend Plätze gibt. Wie schwierig das ist, weiß Betreuerin Haura Alaouie aus eigener Erfahrung: "Ich bin damals auch als Flüchtlingskind hergekommen und ich hatte gar keine Möglichkeit, Deutsch zu lernen. Ich kam direkt in die erste Klasse mit sechs und habe nichts von dem verstanden, was die Lehrerin gesagt hat."
Erst ab der dritten Klasse konnte sie etwas verstehen. Sie ist aus dem Libanon geflohen und kann deshalb für alle arabischen Kinder übersetzen. Mit Mohammad aus Syrien kocht sie gerade in der Kinderküche, spricht Arabisch und Deutsch im Wechsel. Aber vor allem weiß Alaoui, wie die Kinder sich fühlen. Denn fast alle, die hier spielen, haben in ihrer Heimat oder auf der Flucht schlimme Dinge erlebt. Die Spielstube will ihnen ein Stück normale Kindheit ermöglichen. Soweit das eben geht.
Deutsch lernen mit Herbstliedern und Schoko-Nikoläusen
Jetzt setzen sich alle gemeinsam in den Morgenkreis und singen: "Der Herbst ist da". Die meisten Kinder sind schon recht textsicher. Dann holt Böcking einen Schokoladen-Nikolaus aus ihrer Tasche und zeigt ihn den Kindern. "Habt ihr das schon beim Einkaufen gesehen? Und wisst ihr, was das ist?" Lautstark wird gebrüllt: "Schokolade!" "Genau, aber was ist das für ein Mann?", fragt Böcking. So erfahren die Kinder ganz nebenbei auch etwas über deutsche Traditionen. Böcking erklärt: "Das ist ein Nikolaus. In Deutschland feiern wir den Nikolaus am 6. Dezember." Sie hat ein Blatt Papier dabei. Für jeden Tag, der noch kommt bis zum 6. Dezember, gibt es ein Kästchen.
Klettern, Spielen, Rutschen - die Möglichkeit zum Spielen schaffen
An jedem Tag, an dem die Spielstube stattfindet, ist ein Herz eingezeichnet, am 6. Dezember ein Schuh. Efsa kennt den Nikolaus schon aus der Türkei. Sie kann den anderen anhand der Herzen vorzählen, wie oft noch Spielstube ist, bis er kommt.
Abgesehen von den Spielstuben gibt es für die Kinder in der Gemeinschaftsunterkunft Weilimdorf kaum Spielangebote. "Dadurch, dass wir hier mitten im Industriegebiet sind, haben die Kinder tatsächlich eigentlich keine Möglichkeiten. Bis auf den Hof, der draußen ist, und das, was die Familien an Spielmaterialien selbst besitzen", sagt Böcking. Manchmal fahren sie deshalb auch mit den älteren Kindern mit dem Bus zu einem weiter entfernten Spielplatz. Efsa liebt diese Ausflüge, vor allem die Rutsche und das Klettern. "Die meisten Eltern trauen sich das nicht zu", so Böcking. "Sobald sie draußen unterwegs sind, wird es einfach schwierig mit der Sprache." Deshalb seien sie sehr froh, dass die Spielstube so etwas mit ihren Kindern mache.
Vorfreude aufs Lernen und Vorlesen
Die Mutter von Diana, Ruslana Kusiak, ist auch dankbar. Dafür, dass ihre Tochter hier andere Kinder zum Spielen hat und Deutsch lernt. Sie erzählt: "Wenn wir die Kinder aus der Türkei oder Syrien draußen treffen, kennt sie sie schon und kann auf Deutsch mit ihnen sprechen, weil sie es alle hier gelernt haben." Leider lernen sie hier nur zweimal die Woche für drei Stunden. Doch die Kinder freuen sich jedes Mal aufs Neue - vor allem aufs Vorlesen.