Zahl der Bürgergeldempfänger in BW steigt

Bürgergeld und Geringverdiener - wie groß ist der Unterschied?

Stand
Autor/in
Natalie Meyer
Natalie Meyer ist Teil des Teams von "Zur Sache! Baden-Württemberg".
Onlinefassung
Jana Prochazka

Zum 1. Januar 2024 ist das Bürgergeld um rund 60 Euro gestiegen. Kritiker sagen, dadurch lohne sich Arbeit nicht mehr. Was ist dran? Wie ist der Alltag von Bürgergeldempfängern?  

Rund 500.000 Menschen in Baden-Württemberg leben vom Bürgergeld als Regelgeldempfänger. Dazu zählen auch Familienangehörige und Kinder. Eine davon ist Nevin Koca mit ihren zwei Töchtern. Sie ist Bürgergeldempfängerin und hat nach eigenen Angaben rund 1.580 Euro für sich und ihre Familie zur Verfügung. "Wenn man selber arbeitet, da hat man selber Freiheit", sagt sie im Gespräch mit "Zur Sache Baden-Württemberg". "Mit Bürgergeld ist man da gebunden."

Wie viele der Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger potentiell arbeiten könnten, ist unklar. Laut der Agentur für Arbeit in Baden-Württemberg sind nur rund 3.000 Menschen aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeitsfähig. Die Mehrheit der Bürgergeldempfänger im Land - rund 200.000 - stehen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, weil sie bereits erwerbstätig sind, aber ihren geringen Lohn mit Bürgergeld aufbessern müssen. Weitere Gründe seien die Pflege von Angehörigen, Kindererziehung oder Weiterbildungsmaßnahmen. 

"Wenn man selber arbeitet, da hat man selber Freiheit. Da kann man machen, was man will. Mit Bürgergeld ist man gebunden."

Arbeitsagentur: Zahl der Bürgergeldbezieher in BW angestiegen

Laut Arbeitsagentur ist die Anzahl der Bürgergeldbezieher Ende 2023 in Baden-Württemberg deutlich stärker angestiegen als im Rest von Deutschland. Da die Mehrheit davon einen Migrationshintergrund hat, geht die Behörde davon aus, dies hängt mit der Zahl der Flüchtlinge vor allem aus der Ukraine zusammen.  

Nevin Koca ist in Deutschland aufgewachsen, ihre Eltern stammen aus der Türkei. Sie will sich trotz aller finanziellen Engpässe nicht unterkriegen lassen. Sie hilft sich selbst aus mit kleinen Tricks, wie die Milch im Kakao oder Müsli mit Wasser zu verdünnen. "Das schmeckt nicht, aber anders geht's halt nicht", sagt sie.

Nevin Koca ist Bürgergeldempfängerin mit zwei Kindern
Nevin Koca ist Bürgergeldempfängerin mit zwei Kindern. Beim Einkaufen geht sie für einzelne Produkte auch gern in den türkischen Supermarkt. Das meiste muss sie sich aber in der Tafel so günstig wie möglich holen.

Essen sei für sie Luxus. Wenn sie mit der Familie essen geht, heißt das: Jeder bekommt einen halben Lahmacun, also eine halbe Dönerrolle, denn für jeden einen Lahmacun zu kaufen wäre zu teuer. "Aber für uns ist eigentlich fast alles Luxus", so Nevin Koca. 12 Prozent mehr Bürgergeld im Monat seit Januar 2024 machen für sie keinen großen Unterschied.

Lohnt sich Arbeit noch?  

Wäre das anders, wenn Nevin Koca einen Job hätte, bei dem sie den Mindestlohn verdient? Oder liefe das finanziell auf das Gleiche hinaus, weil sie als Geringverdienerin zwar kein Bürgergeld bekäme, aber Wohngeld und Kinderzuschlag beantragen könnte? Das hat der SWR vom Wirtschaftsforschungsinstitut ifo errechnen lassen. Wegen ihrer Kinder könnte Nevin Koca nur halbtags arbeiten. Das Ergebnis: Die Familie hätte auch damit schon mehr am Ende des Monats - 330 Euro. Arbeiten zu gehen würde sich für sie also lohnen.

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Betriebe suchen Mitarbeiter

Für 20 Wochenstunden 330 Euro mehr haben oder gar nicht arbeiten gehen - viele Geringverdiener überlegen sich, ob sich das lohnt. Das berichtet Hermann Leimgruber, der eine Bäckerei mit 150 Mitarbeitern in Tübingen leitet. Derzeit seien kaum neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu bekommen. Schon um Mitternacht müssen sie deshalb anfangen, Schnecken zu rollen und Torten zu schichten. Menschen für die nächtlichen Arbeitszeiten zu begeistern sei schwer, sagt Leimgruber. Ständig suche er Personal. Ohne Kräfte aus dem Ausland könnte er den Betrieb längst einstellen.  

"Wer Bürgergeld braucht, um zu überleben, soll es bekommen", sagt der Bäckermeister. Er kenne aber auch andere Fälle, das Sozialsystem werde häufig missbraucht, obwohl er jeden Mann und jede Frau gebrauchen könne. "Es kann nicht sein, dass dann einer kommt und sagt: Hey, mir reicht das Bürgergeld aus", so Leimgruber. Wegen 100 Euro mehr im Monat würde man nicht früh aufstehen wollen. Manch einer habe ihm sogar schon gesagt: "Ich arbeite hier höchstens schwarz." 

Kündigungen im Handwerk 

Leimgrubers Erfahrungen scheinen vor allem das Handwerk zu betreffen. Im Herbst 2023 hatte eine brancheninterne Umfrage des Bundesinnungsverband des Gebäudereiniger-Handwerks ergeben: Bei 28 Prozent der befragten Betriebe habe es eine Kündigung oder eine angekündigte Kündigung gegeben mit Verweis auf das Bürgergeld.

 

Hermann Leimgruber leitet eine Bäckerei mit 150 Mitarbeitern in Tübingen
Hermann Leimgruber (rechts) leitet eine Bäckerei mit 150 Mitarbeitenden in Tübingen. Ständig sucht er Personal. Ohne Kräfte aus dem Ausland könnte er den Betrieb längst einstellen.

Das Ifo-Institut bestätigt aber: Nicht nur am Beispiel der alleinerziehenden Mutter Nevin Koca zeige sich, dass sich Arbeit lohnt. Das Institut verweist darauf, dass Geringverdiener auch Anspruch auf Sozialleistungen haben. Wenn ein Geringverdiener also nicht viel mehr Geld verdient als ein Bürgergeldempfänger bekommt, hat er Anspruch auf Wohngeld und Kinderzuschlag. Wer diese Leistungen allerdings nicht nutzt, hat dann unter Umständen tatsächlich nicht viel mehr Geld im Monat zur Verfügung wie jemand, der Bürgergeld bezieht.  

In "Zur Sache Baden-Württemberg" kritisierte auch Baden-Württembergs Arbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) am Donnerstag das Bürgergeld der Ampelkoalition. Sie forderte, das Bürgergeld abzuschaffen und nur noch sozial Schwache zu unterstützen, die nicht arbeiten können. Der Begriff Bürgergeld erinnere an ein "bedingungsloses Grundeinkommen".

  

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Nicht nur Geld ist Anreiz 

Für Nevin Koca aus Stuttgart ist nicht der finanzielle Anreiz allein ausschlaggebend: "Ich bin immer die ganze Zeit zuhause, kann nichts machen, nichts tun, da wird man seelisch kaputt und körperlich auch. Und müde." Träume haben sie und ihre Kinder aber trotzdem. "Meine Töchter möchten gern mal Urlaub im Hotel machen", sagt die Bürgergeldempfängerin. Bisher fahren sie einmal im Jahr in die Türkei, weil da ihr Ex-Mann lebt. "Das ist unser einziger Urlaub." 

Damit sie ihren Kindern künftig mehr bieten kann, möchte Nevin Koca arbeiten, um bald nicht mehr abhängig vom Bürgergeld zu sein.

Die komplette Sendung von "Zur Sache Baden-Württemberg" können Sie hier jederzeit ansehen:

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