Am Wochenende ist eine 14-Jährige am Bahnhof in Rastatt von zwei Gleichaltrigen angegriffen und brutal verprügelt worden. Selbst als das Mädchen am Boden lag, haben ihr die beiden mutmaßlichen Täterinnen noch gegen den Kopf getreten. Die anwesende Menschenmenge hat den Vorfall gefilmt und die Täterinnen sogar noch ermutigt. Dem Opfer geholfen hat dagegen niemand. Die Psychologin Maryam Boos erklärt das mit einem Zuschauereffekt und einer "Verantwortungsdiffusion". Richtiges Verhalten in so einer Situation könne aber trainiert werden, sogar schon mit Grundschulkindern.
SWR Aktuell: Wir lesen in den Berichten immer wieder vom sogenannten Zuschauer-Effekt als Grund dafür, dass Menschen in so einem Fall nicht eingreifen. Was steckt dahinter?
Maryam Boos: Wir Psychologen sprechen von einem Phänomen, was wir "Verantwortungsdiffusion" nennen. Es scheint so, dass sich die Verantwortung unter Anwesenden und Zuschauern aufteilt: je mehr Menschen da sind, umso weniger Verantwortung bleibt für den Einzelnen übrig. Bis sich, wie in diesem Fall, niemand mehr zuständig fühlt.
SWR Aktuell: Kann man da platt sagen: Es sind ja genug da, soll sich jemand anderes kümmern?
Boos: Man kann es so herunterbrechen. Ganz so platt ist es allerdings nicht. Es ist so: bis wir helfen, überwinden wir verschiedene Hürden. Die erste Hürde ist, die Situation wahrzunehmen. Wenn ich gerade Kopfhörer auf dem Kopf habe, dem Geschehen nicht zugewandt bin, dann kann ich die Situation gar nicht wahrnehmen.
Habe ich aber die Situation wahrgenommen, geht es darum, die Notfallsituation auch überhaupt zu erkennen. Fatalerweise ist die Interpretation einer Situation auch von dem Verhalten der anderen Anwesenden abhängig.
SWR Aktuell: Aber wenn ein Mädchen auf dem Boden liegt und jemand tritt gegen den Kopf, da gibt es doch keine Zweifel?
Boos: Eigentlich überhaupt nicht. Es ist leider so: dass wir stehen bleiben, zuschauen, das ist ansteckend. Das Nichthandeln ist ansteckend. Gott sei Dank ist aber auch das Handeln ansteckend. Es gibt dann einen Dominoeffekt: Wäre nur ein Einziger dahingegangen, hätte irgendetwas gesagt, dann wären andere nachgezogen.
SWR Aktuell: Wenn eine Menschenmenge drumherum steht, die das Ganze bejubelt und filmt, da hätte man doch zumindest Bedenken, direkt hinzugehen, wenn die Anwesenden diese Tat möglicherweise gut finden.
Boos: Genau. Es ist ja so, dass Zivilcourage mehrere Formen hat. Helfen hat mehrere Formen. Natürlich bedeutet Helfen auch, hinzugehen und einzugreifen. Aber wir müssen als allererstes die Situation einschätzen, bevor wir einschreiten. Bin ich der Sache gewachsen? Bedeutet die Situation Gefahr für mich? Ich kann nämlich auch anders helfen: Zivilcourage heißt auch, Hilfe zu holen.
SWR Aktuell: Das heißt, einfach das Handy rausholen und die Polizei rufen?
Boos: Ganz genau.
SWR Aktuell: Wie kann ich mich auf so eine Situation vorbereiten, damit ich nicht einer von denen bin, die nur herumstehen, gucken und nichts tun?
Boos: Das ist eine gute Frage. Es ist wirklich ein Trainingseffekt. Ich muss meine Handlungsalternativen kennen. Und die Hürden, von denen ich gerade gesprochen habe, sind dann schneller überwunden. Handlungsalternativen einüben heißt, sich zu überlegen: wie kann ich ganz konkret helfen? Wie kann ich mich zur Wehr setzen, ohne selbst Opfer zu werden oder vielleicht sogar zum Täter zu werden, indem ich jemand anderen schlage? Ich trainiere das mit ganz kleinen Kindern schon in der Vorschule oder in der Grundschule. Und wir gehen diese Handlungsalternativen immer und immer wieder durch.