50 Jahre nach dem sogenannten Radikalenerlass hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) in einem offenen Brief Fehler des Staates eingeräumt. In den 1970er Jahren führte der gemeinsame Beschluss von Bund und Ländern dazu, dass zahlreiche Bürgerinnen und Bürger durch den Verfassungsschutz überprüft wurden - häufig mit schlimmen Folgen.
Berufsverbote und Diskriminierungen
Der Radikalenerlass von 1972 sollte eine Unterwanderung des Staates verhindern. Vor allem die Gefahr von Links beunruhigte die damals noch junge Bundesrepublik. Der Beschluss des ersten sozialdemokratischen Kanzlers Willy Brandt und der Ministerpräsidenten der Länder sah unter anderem vor, dass vor jeder Einstellung in den öffentlichen Dienst eine Anfrage beim Verfassungsschutz gestellt werden musste. Der Bund und die sozialdemokratisch regierten Länder rückten bereits 1979 wieder von den Überprüfungen ab. Als letztes Bundesland schaffte Bayern 1991 den Radikalenerlass ab.
Der Beschluss hatte Berufsverbote, Diskriminierungen und langwierige Gerichtsverfahren zur Folge. Kretschmann schreibt in seinem offenen Brief: "Eine ganze Generation wurde unter Verdacht gestellt, das war falsch. Einzelne mögen dann zu Recht sanktioniert worden sein, manche aber eben auch nicht", so der Grünen-Politiker. Der Radikalenerlass habe daher seiner Meinung nach mehr Schaden als Nutzen gestiftet.
Keine Rehabilitierung geplant - Kritik vom DGB
Kretschmann bot den Betroffenen dem Staatsministerium zufolge nun ein Gespräch an. Eine Rehabilitierung und Entschädigung sei jedoch nicht vorgesehen, weil eine Einzelfallprüfung kaum umzusetzen sei und weil Akten teils gar nicht mehr vorlägen, hieß es.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) begrüßt zwar in einer Pressemitteilung den offenen Brief Kretschmanns als "positives Signal", inhaltlich sei er jedoch "mehr als enttäuschend", schreibt der Landesvorsitzende Baden-Württemberg, Kai Burmeister. Man erwarte "eine Entschädigung für all diejenigen, die durch die Berufsverbote herbe materielle Einbußen erlitten haben." Das Land müsse jetzt einen Entschädigungsfonds auflegen.
Ver.di-Landesbezirksleiter Martin Gross äußert die Hoffnung, dass "beim persönlichen Termin im Februar eine Entschuldigung im Namen des Landes ausgesprochen wird". Es sei "schade, dass Kretschmann weiterhin nicht auf Zuschreibungen wie Verblendung, Verirrung oder Demokratiefeinde verzichten" könne, so Gross.
Monika Stein, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erinnert daran, dass Kretschmann 1977 selbst die Einstellung in den Schuldienst zunächst verwehrt wurde. Die von der Landesregierung beauftragte Studie bescheinige Baden-Württemberg eine exzessive Anwendung des Radikalenerlasses, selbst Reinigungskräfte an Hochschulen seien überprüft worden. "Vor diesem Hintergrund ist es gut, dass der Ministerpräsident dies als Fehler benennt und es ist gleichzeitig beschämend, dass gerade ein grüner Ministerpräsident nicht in der Lage ist, sich bei den Opfern zu entschuldigen und sie zu entschädigen", so Stein.
In einem Exklusiv-Interview in der ARD erklärte Kretschmann im vergangenen Jahr erstmals, dass Betroffenen des sogenannten Radikalenerlasses von 1972 Unrecht geschehen sei:
Auch Betroffene fordert Entschädigungen
Die vom Radikalenerlass betroffene Sigrid Altherr-König aus Esslingen hat 1976 Staatsexamen gemacht, für Lehramt, wurde dann nicht eingestellt. Es lägen Erkenntnisse gegen sie vor, hieß es. Nämlich dass sie als Studentin beim MSB Spartakus in studentischen Gremien kandidiert hätte. Dann wurde sie doch zum Referendariat zugelassen, danach wieder nicht eingestellt. Dass Ministerpräsident Kretschmann jetzt einen offenen Brief geschrieben hat, findet sie gut, es reicht ihr aber nicht aus.
"Angemessen und verhältnismäßig" gegen Feinde der Demokratie vorgehen
Die Demokratie dürfe sich gegen ihre Feinde wehren, müsse dabei aber angemessen und verhältnismäßig vorgehen, schreibt Kretschmann in dem Brief. Dies sei damals vor 50 Jahren nicht der Fall gewesen und müsse heute - in einer Zeit, in der die Demokratie unübersehbar durch Extremismen und Verschwörungsideologien bedroht werde - als Lehre verbucht werden. 50 Jahre nach dem Radikalenerlass braucht es laut Kretschmann daher eine neue Debatte über die Frage, wie unsere Demokratie heute bestmöglich geschützt werden kann.