Auch heute fühlen sich viele Juden in Deutschland nicht sicher. Seitdem die Terrororganisation Hamas Israel angegriffen hat, wurden vom Bundeskriminalamt mehr als 2.500 Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt registriert. Über die aktuelle Lage hier in Deutschland haben wir mit dem Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, gesprochen.
SWR1: Wie bitter ist es, dass der Bundestag über besseren Schutz jüdischen Lebens in Deutschland beraten muss?
Felix Klein: Es ist wirklich sehr besorgniserregend, dass wir so nah an den 9. November 1938 gerückt sind im Sicherheitsgefühl der Jüdinnen und Juden in Deutschland, wie noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Da ist es auf der anderen Seite ein gutes Zeichen, dass der Bundestag parteiübergreifend Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung zeigt und dass die historische Dimension auch gesehen wird.
SWR1: Sicherheitsvorkehrungen vor Synagogen sind ja das eine. Aber Hinweise, die Zeitung "Jüdische Allgemeine" nur noch in einem neutralen Umschlag zu verschicken, damit Nachbarn und Zusteller nicht wissen, dass die Empfänger Juden sind. Was macht das mit Ihnen – traurig oder wütend?
Klein: Es macht beides – traurig, wütend und natürlich besorgt. Es kann nicht sein, dass Menschen in unserer Mitte Angst haben müssen, dass sie frei und sicher leben können. Hier müssen wir wirklich alles tun als Zivilgesellschaft, nicht nur die politischen Handelnden, und Solidarität zeigen, wenn zum Beispiel ein Haus eines jüdischen Nachbarn beschmiert wird und dass man ganz klar zum Ausdruck bringt, wo man steht.
SWR1: Genau das sagen jetzt oft Politiker, dass jeder Einzelne etwas gegen Antisemitismus tun sollte. Was wünschen Sie sich?
Klein: Ich wünsche mir viel mehr Solidaritätsbekundungen, auch mit dem Land Israel, das angegriffen wurde. Wenn wir das vergleichen mit dem, was die Ukraine im letzten Jahr erfahren hat, dann ist das wirklich beschämend, wie wenig Solidarität für Israel und für die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden gezeigt wird.
SWR1: Das ist natürlich eine schwierige Gratwanderung – auf der einen Seite mit Israel trauern und die Angriffe der Hamas furchtbar finden und trotzdem die Möglichkeit zu geben, die Politik Israels zu kritisieren.
Klein: Ja, das wird ja auch gemacht. Und es gibt vieles an der israelischen Politik, das kritisiert werden kann. Das passiert auch jeden Tag in Deutschland und in Israel selbst, ohne dass Antisemitismus-Vorwürfe erhoben werden. Das muss deutlich sein. Es muss auch deutlich sein, dass die Palästinenser einen Raum bekommen für die Trauer, für ihre Angehörigen, die in diesem schrecklichen Konflikt ums Leben kommen. Aber das ist möglich. Wichtig ist nur, sowie der Vizekanzler Habeck das sehr schön eingeordnet hat, dass man das in gute Bahnen lenkt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht aufgibt.
SWR1: Trotzdem besteht die Gefahr, dass sofort in Schubladen gedacht wird. Demonstrationen gegen das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen sind in Deutschland aus guten Gründen erlaubt. Und nicht jede Unterstützung für Palästinenser ist antisemitisch. Wo ist da die Grenze?
Klein: Die Grenze ist da, wenn zum Beispiel Straftaten begangen werden, wenn Israel-Fahnen verbrannt werden oder wenn Hamas-Symbolik gezeigt wird. Das sind mittlerweile Straftaten. Und auch wenn der Staat Israel als antisemitisch und der Gazastreifen als großes Konzentrationslager bezeichnet wird. Dann schlägt es um und hier ist Differenzierung vonnöten. Man kann sich aus gutem Grund für die Lebensbedingungen der Palästinenser einsetzen. Wir sind alle aufgerufen, weil es eine humanitäre Ablichtung ist.
SWR1: Diskussionen, Demonstrationen – hält unsere Demokratie das aus?
Klein: Ja, 1938 ist nicht 2023. Wir haben einen starken Staat, einen Staat, der auch geschützt wird. Die Demokratie ist zum Glück wehrhaft. Wichtig ist, dass Antisemitismus und jede Form von Diskriminierung schnell geahndet wird. Übrigens nicht nur von Polizei und Justiz, sondern auch von der Gesellschaft.
Das Gespräch führte SWR1 Moderatorin Claudia Deeg.