Verband sieht "mögliches Fehlverhalten"

Immer mehr Turnerinnen erheben heftige Vorwürfe gegen den DTB und den STB

Stand
Redakteur/in
SWR

Die ehemalige Stuttgarter Spitzenturnerin Tabea Alt wirft Trainern und Verbänden vor, ihre Gesundheit "gezielt aufs Spiel gesetzt" zu haben. Auch weitere Sportlerinnen wie Carina Kröll, Michelle Timm, Janine Berger und Kim Bui melden sich zu Wort.

Für Tabea Alt war es "systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch" am Bundesstützpunkt in Stuttgart. So steht es in einem Instagram-Post, den die 24-Jährige am Samstag (28.12.2024) veröffentlicht hat. Demnach haben die Verantwortlichen ärztliche Vorgaben missachtet und Alt mit Blessuren, mitunter sogar mit Knochenbrüchen, turnen lassen.

Social-Media-Beitrag auf Instagram von tabeaalt

Mehrere Athletinnen mit ähnlichen Problemen

Alt betrachte sich nicht als Einzelfall: "Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung", schreibt sie. Neben Alt erhob auch Carina Kröll auf ihrem Instagram-Account schwere Vorwürfe gegen den DTB. Die 23-Jährige, die bis 2022 für Deutschland an den Start ging und anschließend zum österreichischen Verband wechselte, prangerte vor allem den Leistungsdruck im System Turnen an. So bliebe kaum Zeit, Erfolge wertzuschätzen, weil sofort neue Ziele definiert würden.

Auch die in Filderstadt geborene Kröll nahm Stellung zum Thema Ernährung. So sei sie im Alter von 17 Jahren dazu gedrängt worden, innerhalb von einigen Wochen fünf bis sechs Kilogramm an Gewicht zu verlieren, um vermeintlich konkurrenzfähig zu bleiben: "Ich war 'angeblich' am Limit. Zum Kontext: Ich war 1,64 Meter groß und wog 54 Kilogramm – ein komplett gesundes Gewicht. Trotzdem wurde ich als zu schwer eingestuft."

Social-Media-Beitrag auf Instagram von carinakroell

Mit Michelle Timm äußerte sich am Sonntag (29.12.2024) eine weitere Turnerin zu den Fehlentwicklungen am Stützpunkt Stuttgart. "Diese jahrelangen Missstände machen Menschen kaputt. Diese emotionale Abhängigkeit ist für Außenstehende kaum zu beschreiben und ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen was 'Kinder wie ich' durchlebt haben", schrieb die 27-Jährige auf Instagram.

Stuttgart, Deutschland

Turnen Turnerinnen erheben schwere Vorwürfe - Wie ist der aktuelle Stand? Wie geht es weiter?

Die schweren Vorwürfe gegen die Verbände DTB und STB sowie den Stützpunkt Stuttgart erschüttern das deutsche Turnen. SWR Sport gibt einen Überblick über den aktuellen Stand der Dinge (31.12.).

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR BW

Michelle Timm: "Habe mit sichtbaren körperlichen Schäden trainiert"

"Wenn du keine Leistung mehr bringst oder nicht mehr erfolgreich bist, wird dir schnell die Verantwortung zugeschoben, entweder zurückzukommen oder eben weg zu sein", so Timm. "Auch meine Karriere endete auf diese Weise vorzeitig. Nur wenige Wochen nach meinen letzten internationalen Medaillen für Deutschland wurde mir aufgrund von Ermüdungsbrüchen in Schien- und Wadenbein klar, dass ich für unbestimmte Zeit ausfallen würde und mich mehreren Operationen unterziehen muss. Der eigentliche Wendepunkt kam jedoch als ich erfuhr, dass ich monatelang aufgrund von ärztlichen Fehlentscheidungen mit sichtbaren körperlichen Schäden trainiert hatte. Erst heute kann ich aussprechen, dass dieser Fehler das Ende meiner Karriere bedeutete."

Timm prangerte ebenfalls die "katastrophalen Umstände am Kunstturn-Forum Stuttgart" an. "Es gibt massivste Probleme mit dem Trainerteam im weiblichen Bereich", schrieb sie. "Wir sprechen von 'Safe Sport', unterschreiben sinnlose Papiere, dennoch schauen alle daran vorbei, wie man Stuttgarter Mädchen jungen Alters schlecht behandelt, um ihnen sportliche Höchstleistungen zu entlocken." Timm fordert deshalb personelle Konsequenzen.

Ebenfalls am Sonntag (29.12.) meldete sich Janine Berger zu Wort. Die Olympia-Vierte von London 2012, die für den SSV Ulm 1846 startet, schrieb ebenfalls auf Instagram: "Es ist Zeit, dass endlich Veränderungen im deutschen Turnsystem passieren. Es ist Zeit, dass der DTB Verantwortung übernimmt und Missstände nicht weiterhin ignoriert werden."

Janine Berger: "Mir wurde eingetrichtert, dass Essen schlecht sei"

Auch sie habe "über zehn Jahre gegen eine Essstörung gekämpft" und hätte diesen Kampf fast verloren. "Das Traurige ist, die Verantwortlichen wussten ganz genau Bescheid. Es wurde sogar befeuert. Ich konnte nie dünn genug sein und es wurde mir systematisch eingetrichtert, dass Essen schlecht sei. Ich wurde morgens, mittags und abends gewogen und wenn ich nur 200 Gramm zu viel auf der Waage hatte, wurde mir damit gedroht, mich von Wettkämpfen und/oder Trainingslagern auszuschließen."

Der Höhepunkt dieser Fehlentwicklung sei nach Olympia 2012 erreicht gewesen. "Ich verlor aufgrund eines Kampfrichterfehlers meine Medaille. Ich war seelisch am Boden und habe mich jahrelang als Versager gefühlt. Keiner der Verantwortlichen im Verband hat mich unterstützt, im Gegenteil", schrieb Berger. "Es wurde sogar noch nachgetreten. Mir wurde gesagt, dass mein Gewicht schuld gewesen sei. Und das damals bei acht Prozent Körperfett."

"Ich aß und kotzte alles wieder raus"

Rückblickend sei es mehr um ihr Gewicht als um ihre Leistung gegangen, so Berger, die den Verantwortlichen "Machtmissbrauch und systematisches Drängen in eine Essstörung" vorwarf. Um die Gewichtsvorgaben einzuhalten, habe sie zu gesundheitsschädlichen Maßnahmen gegriffen: "Ich aß und kotzte alles wieder raus." Das System sei inbesondere für junge Turnerinnen krank machend: "Wenn ich nichts essen darf, täglich sechs Stunden trainiere, dann hält das kein Körper auf Langzeit durch."

Berger sei irgendwann in "eine schwere Depression" gefallen: "Ich hatte keinen Sinn mehr im Leben und es hat lange gedauert, bis ich mich und meinen Wert wiederfinden konnte." Sie kämpfe bis heute mit den Folgen.

Social-Media-Beitrag auf Instagram von janine_berger96

Weitere Turnerinnen melden sich zu Wort

Zuvor hatten die Weltklasse-Turnerinnen Kim Bui und Emelie Petz von Essstörungen während ihrer Karriere berichtet. Bui war mit 15 Jahren an Bulimie erkrankt, nachdem ihre Trainerin sie auf ihr Körpergewicht angesprochen hatte. Erst nach sieben Jahren Therapie gelang es ihr, wieder ein gesundes Verhältnis zur Ernährung und zu ihrem Körper zu entwickeln.

Am Sonntag (29.12.2024) äußerte sich Bui dann über Instagram und drückte ihre Unterstützung für die Turnerinnen aus. Sie sei "tief bewegt und voller Respekt für den Mut von meinen ehemaligen Wegbegleiterinnen". Sie wisse aus eigener Erfahrung, wie schwer es sei, "die eigene Stimme zu finden und gegen ein System zu sprechen, das so lange unantastbar schien". "Es ist Zeit, dass wir unsere Stimmen erheben", begann sie ihr Statement.

Stuttgart

Turnen | DTB Kim Bui zu Vorwürfen gegen Turnerbund: "Es war nur eine Frage der Zeit"

Der Deutsche Turner-Bund steht wegen seines Umgangs mit Athletinnen massiv in der Kritik. Die ehemalige Top-Turnerin Kim Bui äußert sich gegenüber SWR Sport zu den schwerwiegenden Vorwürfen.

SWR Aktuell Baden-Württemberg SWR BW

Die ehemalige Turnerin Emelie Petz schrieb wenige Tage vor Weihnachten ebenfalls auf Instagram: "Ich kämpfe seit Jahren gegen eine Essstörung." Die 21-Jährige hatte 2023 ihre Karriere nach einer langwierigen Achillessehnen-Verletzung beendet, die sie auch die Olympia-Teilnahme 2021 in Tokio gekostet hatte. Sie liebe den Sport, aber viele sähen nicht, was der Sport hinterlasse, schrieb Petz. Auch die 17-jährige Turnerin Meolie Jauch hatte im Dezember ihr Karriere-Ende bekanntgegeben, "nicht, weil mein Körper nicht mehr kann – sondern weil es mental nicht mehr geht".

DTB und STB liegen "konkrete Informationen" vor

Ob diese Häufung an mentalen und körperlichen Problemen und Rücktritten unmittelbar mit den von Tabea Alt erhobenen Vorwürfen zusammenhängen, ist derzeit nicht bekannt. Auf Anfrage von SWR Sport äußerte sich der DTB am Samstag zu den Anschuldigungen. "Der Deutsche Turner-Bund (DTB) wie auch der Schwäbische Turnerbund (STB) nehmen die öffentliche Debatte und die Vorwürfe zum Thema mentale Gesundheit von Leistungsturnerinnen und -Turnern sehr ernst. In diesem Zusammenhang liegen DTB und STB konkrete Informationen zu möglichem Fehlverhalten von Seiten verantwortlicher Trainer am Bundesstützpunkt in Stuttgart vor."

Stuttgart

Turnen | DTB Deutliche Worte von Elisabeth Seitz zu Missbrauchsvorwürfen

Am Bundesstützpunkt Stuttgart soll es zu Missbrauchsvorfällen gekommen sein. Nun geht auch Elisabeth Seitz als aktuell prominenteste Stuttgarter Turnerin mit klaren Worten an die Öffentlichkeit.

Sport kompakt SWR1 Baden-Württemberg

Das Geschehen soll nun aufgearbeitet werden

Nun gelte es, konrete Maßnahmen zu ergreifen, hieß es in dem Statement weiter: "Beide Verbände werden gemeinsam eine Untersuchung initiieren, in der das Geschehen aufgearbeitet wird. Für diese Untersuchung wird auch externe Unterstützung hinzugezogen werden. Gegenstand der Untersuchung wird mögliches Fehlverhalten von Trainerinnen und Trainern aber auch Fehler im Leistungssportsystem an Bundesstützpunkten sowie der Umgang mit möglichen Hinweisen innerhalb der Verbandsstrukturen des STB und DTB sein."

Die von Tabea Alt vorgebrachten Vorwürfe dürften den Verbänden nicht neu sein. Nach eigenem Angaben hat die 24-Jährige bereits 2021 einen "ausführlichen Brief" an ihre Trainer, die damalige Bundestrainerin Ulla Koch, den DTB-Präsidenten Alfons Hölzl und den Teamarzt geschrieben. "Darin habe ich die Missstände hier in Stuttgart und im deutschen Frauenturnen im Allgemeinen an meinem Beispiel klar benannt und bekannt gemacht." Sie habe zudem Lösungsvorschläge gemacht und wollte selbst daran mitarbeiten.

Alt turnte zu ihrer aktiven Zeit für den MTV Ludwigsburg (Einzel) und den MTV Stuttgart (Mannschaft). Im April 2021 zog sie sich nach diversen Verletzungen mit 21 Jahren vom Leistungssport zurück.

Stand
Redakteur/in
SWR