Enttäuschung liegt in der Luft. Schottland ist soeben aus der EM ausgeschieden. Die Wiese im Park der Uni Stuttgart ist schon halb leergefegt, nachdem die ersten schottischen Fans bereits vor Abpfiff gegangen waren. Hier hatte die Stadt zwei große Leinwände aufgebaut, sodass die angereisten Fans das Spiel ihrer Nationalmannschaft verfolgen können. Aber nach dem 0:1 gegen Ungarn suchen viele Fans schnell das Weite. Zurück bleiben: Hunderte leere Bierflaschen, Pizzakartons und allerlei anderer Müll.
Ehrenschotte: "Ich liebe Deutschland"
Auch meine Kamerafrau und ich wollen nach einem langen, heißen Arbeitstag Feierabend machen. Zuvor hatten wir schottische Fans interviewt und die tolle Stimmung in der Stuttgarter Innenstadt erlebt. Nun macht sich auch bei uns beiden Müdigkeit und Ernüchterung über das Ausscheiden der Schotten breit, hatten wir sie doch in den vergangenen Tagen sehr lieb gewonnen.
Da sticht uns ein junger Fan ins Auge. Weißes Schottlandtrikot, die schottische Fahne um sich gebunden wie einen Rock. In seinen Händen: mindestens drei leere Bierkisten, die er zu einer Mülltonne schleppt.
Schnell ist das Mikrofon wieder ausgepackt und wir sprechen ihn darauf an, was er hier eigentlich mache. Das Ergebnis: Mein Sportmoment des Jahres und vermutlich auch der vieler anderer Menschen in Deutschland.
„Ihr wart unglaublich gastfreundlich. Wir lieben euer Land. Es ist eine Schande, dass viele Leute auf diese Weise gegangen sind", so der Ehrenschotte. Er sei unglaublich dankbar dafür, dass er in diesem Park in Stuttgart das Spiel seiner Nationalmannschaft schauen durfte und umso mehr verärgert, dass seine schottischen Kollegen den Park so zurücklassen.
"Es macht mir nichts aus, meinen Teil beizutragen und mitanzupacken. Ich liebe Deutschland und es ist eine Schande, dass die Leute den Park so hinterlassen haben."
Ein Held neben dem Spielfeld
Man muss sich vorstellen, dieser junge Fan erlebt zum zweiten Mal (nach 2021) die Teilnahme seines Heimatlandes bei einer Fußball-Europameisterschaft. Er reist in das Gastgeberland, um seine Mannschaft hautnah zu erleben, dann scheidet sein Team nach einem knappen Spiel aus (0:1 gegen Ungarn) und trotz seiner Enttäuschung, die ihm anzusehen und anzumerken war, ist seine erste Tat, den Müll anderer Leute aufzuräumen.
Manche würden es Ablenkung nennen, ich würde sagen, hier sieht man einen Menschen, der erfüllt ist mit Freundlichkeit und Dankbarkeit. Der zwar keine Worte gefunden hat für das EM-Aus seiner Mannschaft, aber dankbar war für eine EM in Deutschland, für schöne Erlebnisse und Erfahrungen.
Roadtrip durch Deutschland wie vor 50 Jahren
Dankbar sind auch Jim und Charlie - die Brüder waren bereits bei der WM 1974 in Deutschland. Damals fuhren sie mit ihren Freunden in einem VW-Bus quer durch Deutschland und nahmen einige Spiele der schottischen Mannschaft bei der WM mit. Nach der WM blieben sie dann in Deutschland und fanden in Fürth einen Job. Nach einigen Monaten beschlossen sie aber, sich wieder in Richtung Heimat aufzumachen.
Los gings mit dem VW-Bus, der allerdings kurz vor Brüssel stehen blieb. Ein Mechaniker reparierte das Nötigste und riet den Brüdern, auf dem Weg nach Hause nicht mehr anzuhalten. "Kurz vor Liverpool leuchtete bei unserem Bus die Warnleuchte auf und wir mussten in 40 Kilometern eine Werkstatt aufsuchen. In dem Moment fuhren wir an einem Schild "zur Isle-of-Man-Fähre" vorbei, das ebenfalls 40 Kilometer Entfernung anzeigte. Da dachten wir uns, 'Mensch, wieso fahren wir nicht dorthin'", erzählt der 68-jährige Jim.
"Wir müssen zurück nach Deutschland"
Gesagt, getan - das Besondere daran: beide Brüder blieben dort, fanden einen Job, bauten Häuser und gründeten dort ihre Familie. "Wenn wir nicht bei der WM 1974 in Deutschland gewesen wären, wäre unser Leben heute komplett anders", sagt der 72-jährige Charlie.
Nach 50 Jahren wieder zurück in Deutschland zu sein und dann auch noch bei einer Fußball-EM, bedeutet für die beiden viel: "Als wir gesehen haben, dass sich Schottland qualifiziert hat, habe ich sofort meinen Bruder angerufen und gesagt: wir müssen zurück nach Deutschland", erzählt Jim. "Und das war die beste Entscheidung, wir haben hier eine tolle Zeit."
Fanfest bei der Fußball EM 2024
Fußballfans gehören oft nicht zu den beliebtesten Gruppierungen in unserer Gesellschaft. Und auch vor der EM 2024 in Deutschland wurden Sicherheitsvorkehrungen aller Art getroffen. Auch ich war gespannt, welche Stimmung sich im Land verbreiten würde. In einer Zeit, in der Kriege und Krisen unsere Gesellschaft erschüttern, in der man manchmal das Gefühl hat, dass es eher viele Einzelspieler statt einer Gemeinschaft gibt.
Mir hat diese EM und die Begegnungen mit Jim, Charlie und dem Ehrenschotten jedoch gezeigt, wie friedlich Fans aus ganz Europa zusammen feiern können. Wie sie aufeinander zugehen, sich helfen und das Leben zusammen genießen.