Es war das wohl größte Fußball-Wunder in der knapp 60-jährigen Geschichte der Bundesliga: Der 1. FC Kaiserslautern düpierte in der Saison 1997/1998 mit einer eingeschworenen Truppe, dem Taktik-Fuchs Otto Rehhagel auf der Bank und fantastischen Fans die Elite des deutschen Fußballs und wurde Deutscher Meister - und das als Aufsteiger. In den heutigen Zeiten, in denen der Fußball vollständig durchkommerzialisiert ist, Unsummen aus verschiedenen Töpfen für ein Ungleichgewicht in den Wettbewerben sorgen und hierzulande die letzten zehn Meistertitel allesamt an den FC Bayern gingen, scheint eine solche Leistung nicht mehr wiederholbar. Doch vor 25 Jahren schrieb der FCK Geschichte.
Zurück in der Beletage des deutschen Fußballs
Hinter dem FCK lagen bewegte Jahre. Der erstmalige Bundesligaabstieg 1996, dem nur eine Woche später der Sieg im DFB-Pokal folgte. Der frühzeitige Wiederaufstieg, die Party auf dem Betzenberg und in der Stadt sowie die Euphorie, die man mit in die Sommerpause nahm. Trotz interner Querelen freuten sich alle rund um die Roten Teufel, endlich wieder da zu sein, wo man dem eigenen Selbstverständnis nach hingehörte: In der Beletage des deutschen Fußballs.
Gleich am ersten Spieltag kam es zu einem pikanten Duell: Der deutsche Meister Bayern München empfing den Aufsteiger Kaiserslautern. Für FCK-Trainer Otto Rehhagel die Rückkehr an den Ort, wo er 461 Tage zuvor, im April 1996, entlassen worden war.
Michael Schjönberg mit dem goldenen Treffer gegen die Bayern
Die Roten Teufel sorgten direkt für einen Paukenschlag. Sie gewannen beim deutschen Rekordmeisters dank einer taktischen Meisterleistung und eines Kopfballtreffers des dänischen Abwehrspielers Michael Schjönberg mit 1:0 und sorgten dafür, dass die Euphorie rund um den Betzenberg nicht nur erhalten blieb, nein, sie steigerten sie sogar noch.
Auch am zweiten Spieltag gewannen die Pfälzer. Gegen Hertha BSC, wiederum dank eines späten Tores. Diesmal traf Angreifer Olaf Marschall zum 1:0-Endstand. Der FCK war nach zwei Runden die einzige verlustpunktfreie Mannschaft der Liga und somit Tabellenführer. Es folgten ein 0:0 in Köln, ein 3:0-Heimsieg gegen Schalke, ein 3:1 in Bochum, ein 4:3 gegen Stuttgart, ein 4:2 beim KSC, bevor es am achten Spieltag mit einer 1:3-Heimpleite gegen Werder Bremen die erste Niederlage setzte. Doch da war der FCK bereits seit Wochen Tabellenführer.
Viele Protagonisten im Formhoch
Der Lauf hatte einiges deutlich gemacht: Die Roten Teufel waren wieder da - und wie! Sie hatten eine eingespielte Truppe, waren schwer zu bespielen und noch schwerer war es, Tore gegen sie zu erzielen. Die Abwehr mit Libero Miroslav Kadlec sowie den beiden Manndeckern Harry Koch und Schjönberg stand sicher, keiner war sich zu schade, den Ball auch mal auf die Tribüne zu dreschen. Auch die Außenbahnspieler Martin Wagner (links) und Andreas Buck (rechts) arbeiteten nach hinten mit, machten aber auch ständig Druck nach vorne.
In der Mittelfeldzentrale war der Schweizer Ciriaco Sforza der Chef, er dirigierte das FCK-Spiel sowie seine Mitspieler. Der Brasilianer Ratinho sorgte für das kreative Element im Offensivspiel, vorne lauerten die beiden Angreifer Marschall und Pavel Kuka auf verwertbare Zuspiele. Mit Jürgen Rische hatte der FCK einen torgefährlichen Joker, die Youngster Marco Reich und Michael Ballack brannten auf Einsätze. Mit Oliver Schäfer, Axel Roos, Marian Hristov und anderen gab es zahlreiche weitere Spieler, die in der Saison 1997/1998 in verschiedenen Rollen sehr wertvoll wurden. Sie alle einte ein Formhoch, dass sie praktisch von Beginn an durch die Spielzeit trug.
Sensationelle Ausbeute
Von der ersten Saisonniederlage ließen sich die Roten Teufel jedenfalls nicht bremsen und antworteten mit zwei Siegen. 25 Punkte aus zehn Spielen lautete die sensationelle Zwischenbilanz. Und das Rehhagel-Team zog bis zur Winterpause durch: 39 Zähler zur Halbzeit - und das als Aufsteiger.
Der Start der Rückrunde erfolgte in der Saison 1997/1998 bereits Anfang Dezember. Somit kam es wieder zum Duell mit den Bayern, die die Hinserie mit 35 Zählern beendet hatten und somit erster Verfolger waren. Und das Setting konnte eigentlich besser nicht sein: Das Spiel fand an einem Freitagabend unter Flutlicht statt, der FCK hätte den Betzenberg mehrmals ausverkaufen können, so groß war die Nachfrage nach Karten. Das Spiel elektrisierte die Massen weit über die Pfalz hinaus.
FCK zieht den Bayern den Zahn
Der Spielverlauf spielte den Hausherren in die Karten. Nach einer ausgeglichenen ersten Hälfte traf Münchens Dietmar Hamann kurz vor der Pause nach einer scharfen Linksflanke ins eigene Netz - 1:0 für den FCK. Die Roten Teufel konnten sich somit im zweiten Durchgang zurückziehen und auf Konter verlegen. Einen ebensolchen schloss der Bulgare Marian Hristov nach einem Pass von Rechtsaußen Buck aus gut sieben Metern zum 2:0-Endstand ab (85. Minute).
Lautern hatte somit nach 18 Spieltagen sieben Punkte Vorsprung auf den ersten Verfolger, der Jubel in der Pfalz war grenzenlos. Immer mehr beim und rund um den FCK glaubten an das eigentlich unmögliche, an den Titel.
Rehhagels Erfolgsgeheimnis: "Die Bayern schlagen"
Auch für Coach Rehhagel war der zweite Erfolg gegen Bayern ein Meilenstein auf dem Weg zur späteren Meisterschaft. "Wir haben ja etwas geschafft, was keiner mehr schafft. Wenn man Meister werden will, muss man Bayern im ersten Spiel und im Rückspiel schlagen", so der mittlerweile 84-Jährige im Gespräch mit SWR Sport. "Die Euphorie und die Begeisterung waren danach groß."
Es wurden noch zwei weitere Runden vor Weihnachten gespielt, Kaiserslautern (45 Punkte) ging als Tabellenerster mit einem komfortablen Vorsprung auf die Bayern (41) in die Winterpause.
Trapattonis legendäre Wutrede
Der Start ins neue Jahr glückte ebenfalls. Der FCK blieb in den ersten sieben Spielen ungeschlagen und baute seinen Vorsprung in der Tabelle aus. Während bei den Bayern Unruhe herrschte. Diese kulminierte am 25. Spieltag nach einer 0:1-Niederlage auf Schalke in der berühmten Wutrede von Trainer Giovanni Trapattoni.
Der Italiener, den Rehhagel einst beim FCB auf der Bank beerbt hatte, war nun zum zweiten Mal Coach des deutschen Rekordmeisters. Die Münchner hatten zwar den besseren Kader, aber auch immer wieder Nebenkriegsschauplätze. Dem FCK sollte es recht sein.
Der Vorsprung schmolz plötzlich
Am 28. Spieltag setzte es dann einen herben Dämpfer - 0:3-Heimpleite gegen Bayer Leverkusen. Es folgten drei Remis, beim MSV Duisburg, im Fritz-Walter-Stadion gegen den BVB und bei Hansa Rostock. Der Vorsprung auf die Bayern war drei Runden vor dem Saisonende auf zwei Zähler zusammengeschmolzen. Plötzlich wandelte sich die allgemeine Euphorie rund um die Roten Teufel in Bangen und Zittern. Die Sensation, die so lange greifbar nah schien, drohte zu platzen.
Am 32. Spieltag wartete auf den FCK dann ein Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach. Erneut war das Fritz-Walter-Stadion ausverkauft, auf die Fans wartete ein Flutlichtspiel am Freitagabend. Die Anspannung auf dem Betzenberg war förmlich greifbar, alle hofften auf ihre Mannschaft - und waren gleichzeitig verunsichert.
Ein Fußballwunder auf dem Betzenberg
Die Pessimisten unter den Anhängern schienen zunächst recht zu behalten. Nach Treffern von Markus Hausweiler und Jörgen Petterson hieß es kurz vor der Pause 0:2, der FCK schien doch noch alles zu verspielen. Was dann folgte, ging als eines der vielen Fußballwunder auf dem Betzenberg in die Geschichte ein.
Ein letzter Angriff der Hausherren vor dem Halbzeitpfiff. Nach einer unübersichtlichen Aktion und mehreren Gladbacher Abwehrversuchen fiel der Ball Olaf Marschall vor die Füße. Der Stürmer, in der Form seines Lebens, schloss mit links aus gut 14 Metern unter die Latte des Gästetores zum 1:2-Anschlusstreffer ab. Unter den Anhängern keimte wieder Hoffnung auf. Coach Rehhagel reagierte trotzdem in der Pause und brachte zur zweiten Hälfte die beiden Youngster Ballack und Reich.
Die zweiten 45 Minuten sollten zum Sturmlauf werden, angefeuert von den frenetischen Fans. Erst recht, nachdem Marschall mit seinem zweiten Treffer ausgleichen konnte (61. Minute) - unter gütiger Mithilfe von Borussen-Keeper Uwe Kamps, der einen nicht allzu platzierten Schuss von Hristov vor die Füße des Angreifers abwehrte, der den Ball ins Netz stocherte.
Danach wurde der Druck aufs Gladbacher Tor immer größer. Rehhagel pushte seine Mannschaft von der Seitenlinie und trieb die Spieler immer wieder nach vorne. Doch es schien nicht zu reichen, die Zeit lief dem FCK davon.
Olaf Marschall zum dritten
Dann, in der letzten Spielminute, noch einmal ein Angriff der Pfälzer. Der 20-jährige Reich bekam auf der linken Kaiserslauterer Angriffsseite den Ball und flankte in den Gladbacher Strafraum. Dort lief Marschall knapp vor dem Fünfmeterraum dem Ball entgegen, stieg hoch, traf die Kugel perfekt mit dem Kopf und bugsierte sie so in den linken Winkel des Gästetores. Seine Mitspieler, Coach Rehhagel und der komplette Betzenberg rasteten aus, das Fritz-Walter-Stadion war ein absolutes Tollhaus.
Da auch die Bayern ihre Hausaufgaben machten und Leverkusen mit 2:1 schlugen, ging der FCK mit weiterhin zwei Zählern Vorsprung in den 33. Spieltag am 02. Mai 1998. Die Roten Teufel empfingen Wolfsburg, während die Münchner bei den damals bereits geretteten Duisburgern vor einer Pflichtaufgabe standen. Doch der FCB tat sich in einem zähen Spiel schwer, während sich bei den Lauterern durch das "Fußball-Wunder" gegen Gladbach alle Fesseln gelöst zu haben schienen.
"Ein Meer in Rot und Weiß!"
Nach Treffern von zweimal Marschall, Wagner und Jürgen Rische triumphierte der FCK mit 4:0, während die Bayern über eine Nullnummer bei den Zebras nicht hinauskamen. Die letzten Minute, die letzten Sekunden waren dann Geschichte. "Hören Sie den Jubel? 17:15 Uhr und 14 Sekunden - der 1. FC Kaiserslautern ist zum vierten Mal deutscher Fußballmeister", so SWR-Sportreporter Jens-Jörg-Rieck in der legendären ARD-Hörfunkkonferenz. "Jetzt werden sie die Tore öffnen und der Platz wird gestürmt werden. Ein Meer in Rot und Weiß!"
Rehhagel: "Wir haben Fußballgeschichte geschrieben"
Ein unglaublicher Erfolg für den 1. FC Kaiserslautern. "Wir haben Fußballgeschichte geschrieben", ordnete Coach Rehhagel den Triumph frühzeitig ein. Und nichts anderes war es. Und in welch überzeugender Manier: An 32 von 34 Spieltagen stand der FCK an der Tabellenspitze, ab dem vierten Spieltag ununterbrochen.
Danach war Ausnahmestimmung. Ganz Kaiserslautern feiert damals den vierten Meistertitel der Vereinsgeschichte. Zur ad hoc organisierten inoffiziellen Meisterfeier kamen am Samstagabend weit über 30.000 Fans in die Stadt. Die Kneipen und Cafés hatten die ganze Nacht geöffnet. Die Pfalz feierte eine unfassbar emotionale Party. Noch heute bekommen FCK-Fans Freudentränen in die Augen, wenn sie sich an diesen 02. Mai 1998 erinnern.
Mittendrin in den Feierlichkeiten: Erfolgstrainer Rehhagel, der allerdings mit angezogener Handbremse feierte - aus Erfahrung. Zudem wusste der Coach, bei wem er sich speziell bedanken musste: bei den Fans.
Am 34. Spieltag durfte der FCK dann als Meister zum letzten Spiel nach Hamburg reisen. Dort ging die Party weiter, Marschall rettete mit seinem später Ausgleichstreffer (88. Minute) noch einen Punkt. Doch das Ergebnis war letztlich allen egal, der Titel wurde immer noch zelebriert - nun schon seit acht Tagen. Für Weltmeister Brehme endete eine große Karriere mit einem weiteren Titel - wohl der sensationellste seiner Karriere - ausgerechnet in seiner Heimatstadt. Was für ein Abschluss, nachdem er noch zwei Jahre zuvor an Rudi Völlers Schulter bittere Tränen vergossen hatte.
"Es ist unglaublich, was hier in den letzten beiden Jahren passiert ist"
Am Tag danach war die große Meisterfeier in Kaiserslautern, die Mannschaft wurde vor dem Rathaus empfangen. Rehhagel dankte seinen Spielern: "Ich möchte der Mannschaft gratulieren. Wir freuen uns, dass dieses Märchen in Erfüllung gegangen ist. Es ist ja unglaublich, was hier in den letzten beiden Jahren passiert ist.
Was damals keiner ahnte: Es war bis heute der letzte Titel des 1. FC Kaiserslautern. Rehhagel führte das Team in den beiden Folgejahren noch zweimal auf Rang fünf, bevor er nach schwachem Saisonstart am 30. September 2001 und "Otto raus"-Rufen seitens der Fans seinen Hut nahm. Danach ging es mit dem FCK endgültig bergab. 2006 und 2012 stieg man noch zweimal aus der Bundesliga ab, 2018 sogar aus der 2. Liga, in die man erst 2022 zurückkehrte und in der man jetzt um Stabilisation kämpft.
Eines aber kann dem FCK keiner nehmen: das Wunder vom Betzenberg 1998. Ein Stück Fußballgeschichte das, so paradox es klingt, im Abstieg 1996 seinen Anfang nahm. Ein Absteiger wurde dann Pokalsieger, stieg wieder auf und triumphierte ein Jahr später als Deutscher Meister.
Rehhagel: "Der Fußball hat sich verändert"
Etwas Historisches, das heute nicht mehr möglich wäre, glaubt auch Rehhagel: "Das gibt es nicht mehr. Der Fußball hat sich verändert. Früher gab es noch eine Chancengleichheit im Fußball. Die gibt es heute nicht mehr. Der beste Fußball wird heute dort gespielt, wo das meiste Geld ist."
Damals aber waren es zwei Jahre wie im Rausch, eine nicht endende Euphoriewelle auf und neben dem Platz. Die Erinnerung wird bleiben. An eine Leistung, die in der Bundesliga wahrscheinlich für immer einzigartig bleiben wird.