Kaum ein Ort könnte beim Vorbeifahren unscheinbarer wirken: Straßen, eine Verkehrsinsel und ein Industriegebiet liegen heute da, wo sich um 5.000 vor Christus ein jungsteinzeitliches Dorf befand.
Doch dort, im pfälzischen Herxheim, machten Wissenschaftler eine aufregende Entdeckung: In tiefen Gruben, die dieses Dorf einst umgaben, entdeckten sie die Spuren eines einzigartigen Rituals.
Überreste einer unbekannten Zeremonie
"Wir haben Menschenknochen gefunden, die in sehr kleine Teile zerschlagen worden sind", erzählt die Koordinatorin der Untersuchungen, Dr. Andrea Zeeb-Lanz von der Archäologischen Denkmalpflege Speyer. "Es gibt aber auch Ansammlungen von Arm- und Beinknochen, bei denen sehr sorgfältig darauf geachtet wurde, dass sie ganz blieben."
Auch ganze Körperteile gelangten in die Gruben, sagt die Archäologin: "Wir finden Körperteile, an denen noch Sehnen vorhanden gewesen sein müssen, denn die Knochen liegen zusammen. Zum Beispiel gibt es einen Torso: der Kopf ist abgeschlagen, die Oberschenkel sind durchtrennt, er hat keine Arme mehr, aber der Rumpf ist am Stück geblieben."
Das Fleisch wurde vom Knochen entfernt
Mehr als 450 Schädel sind bisher entdeckt worden. Sie wurden von den Menschen, die in dieser Zeit - der so genannten Bandkeramik - lebten, besonders behandelt, erzählt Andrea Zeeb-Lanz: "Auf den Schädeln gibt es Schnittspuren, und zwar rundherum etwa auf Höhe einer Hutkrempe und über die Schädelmitte. Das sind genau die Stellen, die man einschneidet, um die Kopfhaut abzuziehen: Die Knochen wurden mazeriert, also vom Fleisch befreit." Oft ist der obere Teil des Schädels sorgfältig vom Gesichtsschädel abgetrennt, Unterkiefer sind in der Mitte zerschlagen worden.
Zwischen den Menschenknochen fanden die Archäologen zerschlagene, qualitativ hervorragende Keramik, unbrauchbar gemachte Steinbeile, zerstörte Feuerstein-Klingen, zertrümmerte Mahlsteine und zerbrochene Tierknochen.
Die Zerstörung als übergeordnete Idee
Wie deuten die Wissenschaftler das uns so fremde Szenario von Herxheim? Andrea Zeeb-Lanz fasst zusammen, was die Fachleute aus den Puzzlestücken zu rekonstruieren versuchen: "Wir stellen uns das so vor: Die Menschen der Bandkeramik haben hier zu verschiedenen Gelegenheiten - wie oft können wir nicht sagen – an offenen Gruben Gefäße, Menschenknochen und viele andere Dinge zerschlagen. Während der Zeremonie brannte in direkter Nähe dazu ein Feuer, das wissen wir. Man hat dann alle Bestandteile des Rituals mit Erde vermischt in die Gruben gefüllt."
Und dabei scheinen die Menschenknochen nicht wichtiger gewesen zu sein als die anderen Gegenstände: "Die Menschen-Teile sind genauso Bestandteil des Rituals gewesen wie die Keramik-Teile und die Tierknochen-Teile. Wir sehen das so, dass sie im Ritual keine übergeordnete Stellung hatten. Alles zusammen ergibt erst in seiner Gesamtheit das Ritual, das diesen Menschen sehr wichtig war. Es gibt die übergeordnete Idee: Es wird etwas zerschlagen und dann in die Grube gepackt."
Ganz entschlüsseln werden die Archäologen die vorgeschichtlichen Glaubensvorstellungen nie können. Aber sie sammeln jede noch so kleine Information, um dem, was einst war, so nah wie möglich zu kommen.
Wer waren die Toten?
Im Dorf lebten gleichzeitig höchstens 100 Menschen. In allen Gruben, so errechnen das die Archäologen, sind Überreste von etwa 1.200 Menschen zu entdecken, die dort innerhalb von 50 Jahren bestattet wurden. Die Toten müssen also von weiter her kommen. "Das können 50 Kilometer Einzugsbereich sein, aber auch 600", überlegt Andrea Zeeb-Lanz, "das wissen wir einfach nicht."
Nicht alle Menschen, deren Skelettreste die Wissenschaftler finden, waren kurz vor dem Ritual gestorben, sagt die Wissenschaftlerin: "Wir wissen, dass hier Menschen niedergelegt wurden, die gerade eben gestorben waren. Aber es gibt auch einige Knochen, an denen die Schlagspuren so gesplittert sind, dass die Knochen schon alt und trocken gewesen sein müssen, als sie bearbeitet oder zerschlagen wurden. Das heißt, hier sind offensichtlich auch Menschen bestattet, die woanders schon zehn Jahre in einem normalen Grab im Boden gelegen haben. Sie wurden wieder ausgegraben, um hier in Herxheim zur allerletzten Ruhe gebettet zu werden. Na, die allerletzte Ruhe ist es nun nicht, weil wir sie wieder ausgraben."
Ein einmaliger Fund
Vom Pariser Becken bis in die Ukraine war die Großkultur der Bandkeramik 650 Jahre lang in einem breiten Streifen über ganz Mitteleuropa verbreitet. Tausende von Siedlungen dieser Zeit haben Archäologen ausgegraben, hunderte von Gräberfeldern erforscht. Aber der Fund eines solchen Großbestattungsplatzes ist einmalig, sagt Andrea Zeeb-Lanz, und man merkt ihr den Stolz an: "Es gibt tatsächlich bisher in der ganzen bandkeramischen Welt nur diesen einen Befund. Auch aus keiner anderen vorgeschichtlichen Kultur kennen wir etwas Vergleichbares."
Fest steht: Vor 7.000 Jahren war das Dorf, an dessen Stelle sich heute das Industriegebiet von Herxheim befindet, ein ganz besonderer, ein einzigartiger Ort, zu dem die Menschen von weit her kamen, um dort ihre Toten zu bestatten. So sehr kann also der Augenschein beim Vorbeifahren täuschen!