Deutlich mehr Biomasse als in früheren Berichten
Die Größe der Waldfläche Russlands zu ermitteln ist eine mühsame Angelegenheit. Bis vor einigen Jahren haben Forstarbeiter*innen die russischen Wälder händisch abgemessen. Da die Gebiete sehr weitläufig sind, dauerten die Vermessungen mehrere Jahre.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden in Russland neue Forsterhebungsprogramme aufgebaut. Deshalb wurde auch eine neue Methode für die Vermessung von großen Waldflächen eingeführt. Die staatliche Forstverwaltung begann mit Sensoren an Satelliten und Flugzeugen die Größe der Wälder aus der Luft und aus dem Weltraum zu bestimmen. Der erste Messzyklus mit dieser neuen Methode endete im vergangenen Jahr.
Bei der Auswertung der Daten fiel den Forschenden dann die gewaltige Differenz auf. Die Menge der Biomasse im Land liegt demnach um 47 Prozent über dem Wert, der zuvor im nationalen Treibhausgasinventar angegeben wurde. Zudem nahm der Waldbestand um 39 Prozent im Vergleich zu den Daten aus dem Staatsforstregister zu. Falls der Bestand und die Biomasse tatsächlich um einiges größer ist als bislang angenommen, könnten die russischen Wälder den Verlust der Biomasse in den Tropen aus den vergangenen Jahren ausgleichen.
Für Expert*innen ein überraschendes Ergebnis. Doch wie belastbar sind diese neuen Zahlen?
Schwachstellen der Studie
Die Satelliten konnten die Parzellen in den russischen Wäldern vorerst nur einmal vermessen. Bislang gibt es keine Vergleichswerte aus früheren Messzyklen. Dr. Thomas Seifert, Leiter der Professur für Waldwachstum an der Universität Freiburg, sieht das als ein Problem: „Ich würde die Studie vorerst als ersten Hinweis sehen. Wenn Sie ein Inventursystem aufbauen, müssen Sie immer bis zum zweiten Zyklus warten. Erst dann können sie Zuwächse berechnen und abschätzen, was tatsächlich an Kohlenstoffdioxid gebunden wird.“
Außerdem haben die Wissenschaftler*innen nicht alle Parzellen der Wälder genau unter die Lupe genommen. Bei ihren Untersuchungen haben sie stichprobenartig Daten ausgewertet und diese hochgerechnet. Unklar ist auch, ob die Satelliten nicht auch Trockenholz als lebende Biomasse deklariert haben. Die Zahlen sind also noch nicht belastbar, doch grundsätzlich wird die neue Erhebungsmethode mithilfe der Satelliten aber als zuverlässiger eingeschätzt als die Vermessung der Wälder am Boden.
Zahlen mit politischer Bedeutung
Sollten Russlands Wälder tatsächlich mehr Biomasse und Volumen beinhalten als bislang gedacht, wäre das eine gute Nachricht für das Erdklima. Denn die größere Waldfläche in Russland könnte laut den Forschenden den Schwund an Tropenwäldern ausgleichen. Seit 1970 sind mehr als 20 Prozent der Tropenwälder verschwunden. Die Tropen sind entscheidende CO2-Umwandler und speichern darüber hinaus enorme Mengen an Wasser.
Doch viele Klimaforscher*innen befürchten, dass die russische Regierung die Erkenntnisse nutzt, um die hohen Emissionen an Treibhausgasen im Land zu rechtfertigen. Mit mehr als zehn Tonnen Kohlenstoffdioxid pro Kopf emittiert Russland mehr als doppelt so viel wie der weltweite Durchschnitt.
Die Regierung hatte bereits früher erklärt, dass sie die CO2-Senken in Sibirien nutzen wolle, um die Emissionen Russlands auszugleichen. Wie effektiv die russischen Wälder als CO2-Senken wirken, hänge aber auch von äußeren Umständen wie Waldbränden ab. Auch jetzt, im Sommer 2021, brennen im flächenmäßig größten Land der Erde mehrere Millionen Hektar Wald.