Der gemeine Rabe hatte lange einen eher schlechten Ruf: Er galt als düsterer, unheilbringender Charakter, als Aasfresser, dessen Gegenwart man meiden müsse. Das zeigte sich auch in vielen Gedichten, zum Beispiel in Edgar Allan Poes „The Raven“ oder in Gedichten von Georg Trakl. Doch das Bild hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt.
Mittlerweile weiß man, wie komplex dieser Vogel in kognitiver und emotionaler Hinsicht ist. Ein Raben-Kenner und -Liebhaber ist der Verhaltensbiologe Thomas Bugnyar. Sein Buch mit dem schlichten Titel „Raben“ ist in Österreich zum Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet worden, weil Buckner "mit großer Begeisterung in das Leben, Denken und Fühlen der Raben einführe". Im Gespräch mit SWR2 Impuls gibt er Einblicke in das komplexe Sozialverhalten der Rabevögel.
SWR2 Impuls: Halten Sie sich zuhause einen Raben, oder sollte man den Vogel auf keinen Fall zum Haus- und Käfigtier degradieren?
Thomas Bugnyar: Nein, also ich persönlich halte mir keinen Raben und ich würde schwer davon abraten, Raben privat zu halten, einfach weil sie sehr viel Platz brauchen, sehr viel Ansprache brauchen. Ein Rabe alleine ist ganz schlecht. Sie müssten dann zu zweit gehalten werden. Und dann bekommt man aber auch nicht mehr diesen ganz engen Kontakt hin. Also sie sind keine guten Heimtiere.
Was heißt das: Raben brauchen viel Ansprache?
Bugnyar: Sie sind sehr soziale Wesen und gehen untereinander eine Langzeitpaar-Bindung an. Das heißt, die bleiben ein Leben lang mit einem Partner zusammen. Und das gleiche System würden sie quasi auch in Gefangenschaft mit uns machen.
Ich muss dazu sagen: Ich halte Raben auch in Volieren, also ich habe sie in Gefangenschaft. Aber ich versuche, das Leben möglichst zu simulieren, was sie draußen haben. Wenn sie jung sind, sind sie in Jugendgruppen. Mit dem Älterwerden dürfen sie sich verpaaren und dann dürfen sie territorial werden, dürfen außerhalb der Brutzeit aber zu den anderen noch rüber, solche Dinge. Wir versuchen möglichst das vielfältig für sie zu machen. Wenn Sie das nicht haben, dann verkümmern sie bis zu einem gewissen Grad auch geistig.
Welches Vorurteil über Raben stört Sie am meisten?
Bugnyar: Was mich vielleicht am meisten stört, ist, dass sie irgendwie schlechte Eltern sind oder überhaupt einen schlechten Charakter haben. Das stimmt einfach absolut nicht. Das mit den Rabeneltern kommt einfach daher, dass die Jungen sehr laut rufen, wenn sie im Nest sind. Wenn die Altvögel mit Futter kommen, dann rufen die Jungen sehr laut. Das hört man. Von daher kommt auch diese Interpretation. Das ist eigentlich nicht nur bei Raben, sondern bei allen Singvögeln so, dass die Jungen untereinander darum konkurrieren, das Futter von dem Elternteil, das gerade mit Futter kommt, zu bekommen. Das heißt: Gib es mir und nicht dem anderen. Also die schreien dann, die versuchen, sich gegenseitig niederzuschreien, um dem Elternteil zu signalisieren: Ich brauche es.
Und bei kleinen Singvögeln ist es auch so. Wenn das zu laut ist, dann hören das auch mögliche Fressfeinde. Und dadurch gibt es einerseits eine Selektion: Sei lauter als deine Geschwister. Auf der einen Seite gibt es auch eine Selektion: Sei nicht so laut, dass dich nicht die anderen hören, sonst wirst du gefressen.
Dieser letzte Faktor fällt bei den Raben weg, weil sie so groß sind, haben sie keine Nestfeinde. Und dadurch können sie immer lauter werden beim Schreien. Und das fällt natürlich uns Menschen auf. Das hat nichts damit zu tun, dass die Eltern nicht füttern oder kaum füttern. Sondern es ist umgekehrt. Je mehr die Jungen schreien, desto öfter kommen die Eltern eigentlich mit Futter.
Wie intelligent ist so ein Rabe? Was kann er, was andere Vögel nicht unbedingt können?
Bugnyar: Das ist wirklich schwer zu sagen. Dafür müsste man eigentlich wirklich faire Vergleiche anstellen zwischen Raben und anderen Vögeln. So weit sind wir eigentlich noch nicht. Aber was man sagen kann, in welchen Bereichen die Raben ganz gut sind. Ich persönlich beschäftige mich mit sozialer Kognition. Das heißt, ich will wissen, was Raben von anderen wissen und wie sie das Wissen einsetzen. Und da können wir in bestimmten Bereichen sagen, dass sie eigentlich sehr weit kommen.
Also sie können nicht nur verstehen, die Beziehungen, die sie haben, zu anderen also zum Beispiel, wer ist mein Freund, wer ist mir gegenüber dominant? Oder wo bin ich dominant gegenüber einem anderen? Das wissen sie natürlich locker. Aber sie können das auch zwischen anderen. Sie können auch sagen: Das ist der Freund von dem anderen. Der da drüben ist dominant. Also der Hansi ist dominant gegenüber Fritzi. Nur als Zuschauer können sie solche Dinge, solche Informationen quasi „extrahieren“ und dann auch verrechnen. Und das ist etwas, was nicht trivial ist.
Ist das vergleichbar mit dem Sozialverhalten und der Sozialstruktur von Schimpansen?
Bugnyar: Ich bin auch jemand, der immer wieder seinen Vergleich macht. Aber ich versuche, mich da immer ganz konkret auf einen bestimmten Kontext zu beziehen. Wenn man das macht, kann man diesen Vergleich herstellen. Insgesamt gesehen würde ich sagen, dass es schon Unterschiede gibt im sozialen, in der Sozialstruktur von Raben und von Schimpansen.
Zum Beispiel sind Raben eben in Langzeit-Ehe: Männchen, Weibchen, ganz eng. Das finden wir bei den Schimpansen nicht, und die Jungenaufzucht ist bei den Schimpansen Muttersache. Bei den Raben sind es beide Elternteile. Solche gravierenden Unterschiede findet man schon. Unabhängig davon sind die sozialen Beziehungen, die sie machen, extrem wichtig für Schimpansen und für Raben. Und was sie dann mit den sozialen Beziehungen anstellen können, das ist auch sehr ähnlich. Und da können wir wieder die Vergleiche ziehen.
Bilden Raben denn auch Koalitionen?
Bugnyar: Genau, das machen sie wunderbar. Und zwar natürlich die Paar-Partner untereinander, aber auch "befreundete"ndividuen. Das können zwei Männchen sein, zum Beispiel, dass der Eine dem Anderen hilft, den Dritten zu „verbraten“.
Jemanden „verbraten“ – Gibt es sowas tatsächlich bei Raben?
Bugnyar: Ja, das geht sogar noch weiter. Wenn einer Hilfe braucht, also dann, wenn einer verprügelt wird, dann schreit er normalerweise, dann gibt er so „defensive“ Rufe von sich. Derjenige, der verprügelt wird und eben dann so diese Rufe von sich gibt, der moduliert die Rufe je nachdem, wer sonst noch herum ist. Wenn ein möglicher Koalitionspartner von ihm selber, also ein Freund oder ein Partner oder Verwandter da ist, dann übertreibt er. Dann schreit er wie am Spieß, damit der ja mitkriegt, dass er Hilfe braucht und dann auch kommt, um ihm zu helfen.
Das heißt, der sagt dem Freund nochmal: Jetzt kommt bitte und hilf mir unbedingt, mir geht es schlecht.
Bugnyar: Aber es geht auch umgekehrt: Nämlich wenn keiner von seinen eigenen Allianzpartnern da ist, aber ein Partner oder Freund vom Angreifer. Da sagen sie nichts, da versuchen sie eben das Rufen komplett zu unterdrücken, also quasi nicht den anderen noch zu sagen: Hey, ich habe gerade ein Problem, sonst kriegt der noch ein Problem.
Das ist wirklich ein ausgeklügeltes System. Wie geht das denn, wenn ein Rabe „verprügelt“ wird?
Bugnyar: Ja, die können gut miteinander streiten. Die springen so gegeneinander hoch und versuchen, den anderen mit dem Schnabel zu treffen beziehungsweise eigentlich am Rücken zum fixieren. Wenn sie das schaffen, dann können sie den wirklich gut „verprügeln“.
Haben Raben so etwas wie Empathie? Also können sie sich hineinversetzen in die Kolleginnen und Kollegen?
Bugnyar: Das kann ich so noch nicht sagen, aber wir haben eine Vorstufe von Empathie. Das ist emotionale Ansteckung. Die haben wir getestet, und das funktioniert. Wenn ich zum Beispiel einen Raben durch ein Guckloch durchschauen lassen und er sieht da zwei Nahrungstücke, eines mag er total gerne, ein Stück Fleisch und das Andere mag er nicht, ein Stück Karotte zum Beispiel. Und ich nehme nachher das Fleisch weg und er sieht nur noch die Karotte, dann versetze ich den Raben dadurch in einen emotional Zustand, der nicht positiv ist.
Also er ist quasi „frustriert“ oder „angefressen“. Wenn ich einen anderen Raben zuschauen lasse. Der sieht nur das Verhalten des einen Raben, der durch das Guckloch sieht, was dahinter passiert. Dann kann der kurzfristig die gleiche emotionale Lage übernehmen wie der Rabe, der da gerade „sauer“ ist, dass er nicht das gute Fressen bekommt. Und dann, wenn ich den anderen Rabe teste, wie siehst du die Dinge generell, dann sagt er: Ich bin im Moment auch sauer. Und wir testen das, indem wir sie quasi fragen, ob ein Glas halbvoll oder halbleer ist.
Die Idee ist, wenn er in einer emotional guten Stimmung ist, das sagt er „halbvoll“, wenn er in einer emotional schlechten Stimmung ist, sagt er „halbleer“. Diese Tests können wir machen und somit können wir auch ein bisschen über das Gefühlsleben von den Tieren erfahren. So weit sind wir im Moment.
Ich vermute mal, die Forschung wird weitergehen. Gibt es denn einen blinden Fleck? Was muss noch weiter erforscht werden?
Bugnyar: Ich würde sagen wir, wir kratzen jetzt an der Oberfläche. Ich mache soziale Kognition. Ein paar Kollegen haben angefangen mit der technischen Intelligenz, aber da sind noch ganz große Felder offen. Kultur ist ein weiteres Beispiel, weil man noch nicht wirklich viel gemacht habt, wo ich aber sicher bin, dass da einiges dahinter ist.
Dass bestimmte Rabenkolonien eigene Kulturen haben?
Bugnyar: Ja, beziehungsweise dass sie sich anders verhalten. Also, dass verschiedene Kolonien sich unterschiedlich verhalten und dieses Verhalten sozial weitergegeben wird über Generationen.