Samira kann ihre eigene Mutter nicht beschreiben. Sie weiß nicht, ob ihre Mutter blaue oder grüne Augen hat. Klingt nach emotionalem Defizit, hat aber einen handfesten Grund: Die 20-Jährige hat Aphantasie. Das heißt, dass sie keine visuelle Vorstellungskraft hat. Ihr inneres Auge ist sozusagen blind.
Das ist auch bei der 26-jährigen Leni der Fall. Sie liest gerne und hat irgendwann angefangen Herr der Ringe zu lesen. Die seitenlangen Naturbeschreibungen waren aber für sie langweilig und sie hat die Seiten überblättert. Sie dachte sich: „Wie kann jemand dieses Buch lesen?!“
Ursache möglicherweise gestörte Verbindung zweier Hirnregionen
Leni hat in der Abitur-Zeit bemerkt, dass irgendwas anders ist. Sie unterhielt sich damals mit Mitschülern, als sie sich plötzlich etwas bildlich vorstellen soll. „Und ich war so: Hä? Wie? Stell dir das mal bildlich vor? Und hab die so unterbrochen und meinte so: Wie 'bildlich vorstellen'? Und die haben mich alle so angeguckt und meinten so: Ja, mit nem Bild im Kopf. Dann hab ich nichts mehr gesagt, weil mir das total unangenehm war diese Situation.“
Dass sie nicht allein mit dem Phänomen ist, das weiß Leni damals noch nicht. Den Begriff "Aphantasie" gibt es erst seit 2015. Und wie sie entsteht, ist auch noch nicht ganz klar. Forschende vermuten, dass bei Aphantasisten die Verbindung zwischen zwei Gehirnregionen auf irgendeine Art gestört ist. Nämlich die zwischen Frontalkortex und visuellem Kortex, wo die mentalen Bilder entstehen.
Andere Informationsverarbeitung
Der Psychologe Merlin Monzel ist selbst Aphantasist und schreibt gerade seine Doktorarbeit über das Thema. Unter anderem hat er etwa Tausend Betroffene Fragebögen ausfüllen lassen – und zwar zu den Themen "Gedächtnis", "Empathie" und "visuelles Vorstellungsvermögen":
Aphantasie ist keine Krankheit
Aphantasisten brauchen deshalb länger, um im Wimmelbild den rosaroten Elefanten zu finden, sagt Monzel. Er ist einer von wenigen Wissenschaftlern, die sich überhaupt mit dem Phänomen befassen. Den bisherigen Erkenntnissen zufolge könnten bis zu drei Prozent der Menschen Aphantasisten sein. Monzel hält diese Zahl aber für sehr vage. Die Dunkelziffer könnte einerseits höher liegen. Andererseits halten sich womöglich Menschen fälschlicherweise für Aphantasisten, nur weil sie Bilder nicht bewusst wahrnehmen.
Auch Aphantasisten können Empathie haben
Stattdessen ist Aphantasie eine "kognitive Normvariante", wie der Psychologe sagt. Die Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen läuft bei Betroffenen anders ab. Und das nicht nur bei Bildern. Auch Geräusche, Geschmäcker und Gefühle können sie sich nicht vorstellen. Trotzdem sind Aphantasisten keine emotionalen Krüppel. In kleinen Stichproben hat Merlin Monzel Betroffene genau dazu befragt. Das Ergebnis: Bei fiktionalen Romanfiguren sind Aphantasisten tendenziell weniger empathisch.
Möglicherweise, weil sie sich das, was einer Figur widerfährt, nicht so detailliert vorstellen können wie Nicht-Betroffene. Deshalb kann Leni wohl auch nichts mit den Herr der Ringe-Büchern anfangen. Auf den Alltag der Betroffenen lassen sich dadurch aber kaum Rückschlüsse ziehen, glaubt der Experte: Wenn man zum Beispiel sehe, dass jemand vor einem stolpert und hinfällt, dann sehe man das ja. Das müsse man sich nicht vorstellen. Die Empathie, so Menzel, sollte das nicht stark beeinträchtigen können.
Wo es aber Beeinträchtigungen geben kann, das sind Schulaufgaben. Und zwar solche, die stark an bildliches Vorstellungsvermögen anknüpfen. Den Klassiker kennen wir alle aus dem Mathe-Unterricht: So kann manchen Aphantasisten bereits eine einfache Rechenaufgabe wie „Stell dir vor, du hast drei Äpfel, zwei Äpfel kommen dazu“ schwerfallen.
Aphantasisten brauchen andere Lernstrategien
Deswegen ist eines der Hauptziele von Merlin Monzels Arbeit: Aufgaben und Lernstrategien entwickeln, die eben NICHT aufs Vorstellungsvermögen abzielen, sodass auch Aphantasisten eine faire Chance haben. Davon abgesehen ist dieses Phänomen aber keine Krankheit, geschweige denn eine Behinderung.
Im Gegenteil: Samira sieht darin auch Vorteile: „Ich habe schon das Gefühl: Dadurch, dass ich keine Bilder im Kopf habe, lebe ich irgendwie mehr im Moment und hänge nicht in der Vergangenheit oder der Zukunft. Ich bin irgendwie sehr präsent und das finde ich auch beruhigend und erdend, weil ich das Gefühl habe, ich kann den Moment oft einfach sehr genießen.“
Leni und Samira kamen mit Aphantasie auf die Welt. Würden sie es sich anders wünschen? Würden sie gerne ihre Liebsten, die gerade nicht da sind, vor ihrem inneren Auge sehen können? Würden sie gerne Meeresrauschen hören, um innerlich am Strand zu liegen? Sie sagen: Ja, einerseits ist das bestimmt spannend und aufregend...