Karl-Sczuka-Preis 2009

Wolfgang Müller: Séance Vocibus Avium

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Autor/in
Wolfgang Müller

Mit dem Verschwinden einer Vogelart verstummt auch deren Gesang. Seit 1600 sind schätzungsweise 150 Vogelarten ausgestorben. Neben den Überresten in naturkundlichen Sammlungen in Form von Bälgern, Skeletten und Eiern existieren auch eine Anzahl zeitgenössischer wissenschaftlicher Beschreibungen. Nur sehr wenige dieser beinhalten jedoch Angaben zur Stimme des Vogels.

Wolfgang Müller analysiert in der Séance vocibus avium die Sprache der Wissenschaftler, Entdecker und Forscher, die den Vogel und seine Umgebung begreifbar und anschaulich machen wollten und wollen. Welche Sprache wird dabei eingesetzt, was klingt aus ihr? Welche Wörter werden verwendet, um die Gestalt und das Wesen des ausgestorbenen Vogels zu rekonstruieren? Die Stimme von Claudia Urbschat-Mingues kreiert in einer Sprachséance Bilder von neuen, nie zuvor gesehenen Vögeln in fremden und vertrauten Biotopen.

Außerdem bat Wolfgang Müller zehn mit ihm befreundete Musiker, eine möglichst naturalistische Rekonstruktion des verstummten Vogelgesanges nach den existierenden wissenschaftlichen Angaben vorzunehmen.

Die Vogelstimmen werden gestaltet durch Justus Köhnke, Annette Humpe, Frederik Schikowski, Frieder Butzmann, Hartmut Andryczuk, Max Müller, Nicholas Bussmann, Wolfgang Müller, Françoise Cactus, Brezel Göring, Khan, Namosh und Kristbjörg Kjeld. Dafür lösen sie ihre Identität als Musiker und Künstler auf und verwandeln sich in einen bestimmten, ausgestorbenen Vogel, den sie nun durch dessen Gesang verkörpern. Das Resultat ist weder Musik noch Klangkunst sondern bisher nie gehörte Lautpoesie.

Bereits 1994 rekonstruierte Wolfgang Müller in Reykjavík für sein BR-Hörspiel Das Thrymlied die Lautäußerungen des ursprünglich in Europa heimischen und vollständig ausgerotteten nordatlantischen Riesenalks (alca impennis). Dessen Laute wurden 1844 von drei isländischen Seeleuten bei der Tötung der letzten Exemplare letztmalig vernommen und in einem Artikel des Wissenschaftlers Dr. Alfred Newton aus Cambridge in der Zeitschrift Ibis (1858) beschrieben.

Produktion: Bayerischen Rundfunks
Ursendung: 03.08.2008

Begründung der Jury und Wettbewerb 2009

"Wissenschaftliche Beschreibungen ausgestorbener Vogelarten und ihrer Stimmen nimmt der Künstler und Feldforscher Wolfgang Müller zum Ausgangspunkt seines Hörwerks ‚Séance vocibus avium’. Aus der aussterbenden Form eines Rundfunkvortrags entwickelt er eine zunächst nüchtern anmutende Textstruktur, um die Sätze dann auf spielerische Weise in Wortreihen und Bedeutungsfelder zu überführen. Damit wird die Aufmerksamkeit vom ursprünglichen Kontext der zoologischen Darstellung gelöst und auf poetische Klang- und Bedeutungsreize der einzelnen Vokabeln gelenkt. Vogelnamen, exotische Lebensräume und die verbalen Notationen von Lautäußerungen schaffen weite Imaginationsfelder in den elf Textpassagen, auf die jeweils eine betörende Rekonstruktion von verlorenen Vogelstimmen durch menschliche Interpreten folgt. ‚Séance vocibus avium’ bezaubert durch seine Lust am Erfinden von Wirklichkeiten."

Insgesamt wurden 2009 88 Wettbewerbsbeiträge aus 16 Ländern eingereicht, davon 40 freie Autorenproduktionen. Die Preisverleihung fand am 17. Oktober als öffentliche Veranstaltung im Rahmen der Donaueschinger Musiktage 2009 statt.

Über Preisvergabe hat eine unabhängige Jury entschieden. Mitglieder waren die Publizistin, Literaturwissenschaftlerin und ehemalige Kulturstaatsministerin Christina Weiss (Vorsitz), der Schriftsteller Marcel Beyer, der Komponist Helmut Oehring, der Literaturwissenschaftler Klaus Ramm sowie die Journalistin und Musikwissenschaftlerin Margarete Zander.  

Jurymitglieder des Karl-Sczuka-Preises. V.li.n.re.: Ekkehard Skoruppa, Prof. Dr. Klaus Ramm (verdeckt), Dr. Margaret Zander, Prof. Dr. Christina Weiss, Helmut Oehring, Marcel Beyer (im Vordergrund).
Jury Karl-Sczuka-Preis 2009, v.l.n.r.: Ekkehard Skoruppa, Prof. Dr. Klaus Ramm (verdeckt), Dr. Margaret Zander, Prof. Dr. Christina Weiss, Helmut Oehring, Marcel Beyer (im Vordergrund).

Der Preisträger

Wolfgang Müller wurde 1957 im niedersächsischen Wolfsburg geboren. Im Jahr 1979 zieht er nach Berlin und gründet mit Nikolaus Utermöhlen 1980 das Projekt Die Tödliche Doris. Zeitgleich beginnt er ein Studium im Fachbereich 4, Experimentelle Filmgestaltung an der Hochschule der Künste Berlin (jetzt UdK).Mit Die Tödliche Doris untersucht er eine Frage von Marcel Duchamp: Kann man etwas machen, was keine Kunst ist? Wolfgang Müller erweitert die Frage um: Kann man mit Klang, Ton und Geräusch etwas machen, was keine Musik ist?

Die Tödliche Doris kreiert mit wechselnden Besetzungen im Zuge dieser Fragestellung zahlreiche unmu­sikalische, außermusikalische und übermusikalische Werke. Sie musiziert 1981 mit gehörlosen Freunden wie dem Gebärdensprachperformer Gunter Trube und stellt 1983 mit Chöre & Soli eine Schallplattenbox vor, die aus acht beiderseitig abspielbaren Miniphonschallplatten und batteriebetriebenem Abspielgerät besteht — ursprünglich ein Patent, das für Sprechpuppen entwickelt wurde.

Im Jahr 1987 gibt Wolfgang Müller das Erscheinen einer „unsichtbaren fünften Langspielplatte" bekannt. Diese entsteht, wenn die Langspielplatte Unser Debüt (1984) zeitgleich mit der entsprechenden A- oder B-Seite ihres Pendants, der 1986 erschienenen LP sechs von Die Tödliche Doris, auf je einem Plattenspieler abgespielt wird. Beide Produktionen interagieren zeitlich, textlich und musikalisch miteinander, dass sie so ein neues Ganzes, nämlich die erste unsichtbare Langspielplatte der Welt ergeben.

Mit Die unsichtbare LP Nr. 5 beendet Die Tödliche Doris ihre Existenz im Jahr 1987. Diese führte sie unter anderem ins Musée d'Art Moderne Paris (1982), The Museum of Modern Art New York (1987), in den Club Quattro Tokio (1987), in die Halla Gwardii Warschau (1987), Petöfi Scarnok Budapest (1986) und machte sie zum offiziellen Teilnehmer der documenta 8 in Kassel und des Bierfront-Festivals in Aachen (1987).

Wolfgang Müller löst Die Tödliche Doris 1987 in einen italienischen Weißwein Marke Vino do tovola bianco auf. Diesen Wein stellt er 1988 in der Kunsthalle Hamburg vor und schenkt ihn dort auch aus. Zeitgleich zu Michel Jacksons LP BAD veröffentlicht Wolfgang Müller 1989 seine erste Solo-LP BAT. Auf ihr sind die Lautäußerungen acht einheimischer Fledermausarten zu hören, sogenannte Knalle, die mit Schalldetektor aus dem Ultraschallbereich in für den Menschen hörbare Frequenzen übertragen und erstmals auf Schallplatte hörbar gemacht werden.

BAT ist ein Flop. Während BAD zu einer der meistverkauftesten LPs des Jahrhunderts wird, kann Wolfgang Müller die letzten seiner insgesamt eintausend BAT-LPs erst knapp zwanzig Jahre später, im Jahr 2007 verkaufen. (Allerdings ist BAT ein gesuchtes Sammlerstück und wird bereits wesentlich teurer als BAD gehandelt.)

Nach einem Besuch auf Island im Jahr 1990 richtet sich Wolfgang Müllers Interesse verstärkt auf die Polarinsel im Nordatlantik. Dort entstehende Ton- und Kunstwerke signiert er nun mit der isländischen Übersetzung seines Namens Ülfur Hräöölfsson.Als solcher realisiert er 1996 das Thrymlied — lslandnoten von Ülfur Hrödölfsson, eine Hörspielproduktion für den Bayerischen Rundfunk. In ihr enthalten sind die rekonstruierten Laute eines 1844 vor Islands Küste ausgerotteten Vogels, des flugunfähigen Riesenalken (alca impennis) und die Stimmen isländischer Schauspieler, die deutsche Texte mit isländischem Akzent vortragen. Im Martin Schmitz Verlag erscheint 1997 Blue Tit — das deutsch-isländische Blaumeisenbuch, welches Wolfgang Müllers wissenschaftlich-künstlerische Forschungen und seine Methodik erstmals ausführlich dokumentiert.

In Norwegen, wo Kurt Schwitters im Exil lebte, glaubt Wolfgang Müller 1994 von den dort lebenden Staren eine Interpretation der verschollenen Ursonate vernommen zu haben. Im Jahr 2000 stellt er das Projekt Hausmusik — Stare auf Hjertaya singen Kurt Schwitters vor. Er stellt die Frage: Imitieren die Stare — laut Auskunft von Prof. Dr. Böhner müssten es inzwischen über fünfzig Generationen sein — auf dieser Insel Kurt Schwitters Ursanote? Nach seiner Veröffentlichung erhält Wolfgang Müller einen Mahnbescheid vom Rechteinhaber der Ursonate,der Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH. Da von angeregt geht er der Frage nach: Können Stare das Urheberrecht verletzen? Diese und andere Fragen mehr untersucht er in seinem 2007 in der Edition Suhrkamp erschienenen Buch „Neues von der Elfenfront - Die Wahrheit über Island".

Im Jahr 1998 inszeniert Wolfgang Müller Gehörlose Musik — Die Tödliche Doris in gebärdensprachlicher Ge­staltung im Prater der Berliner Volksbühne. Texte und Musik seiner Produktion werden von den Gebärdensprachdolmetschern Dina Tabbert und Andrea Schulz durch ihre Körper und Gebärden interaktiv im Raum transformiert. Dadurch wird die Musik urheberrechtsfrei. „Eine Verwertungsgesellschaft, die die Rechte an derlei Werken übernimmt, ist mir nicht bekannt." (Dr. Ina Hölscher, GEMA). Die gleichnamige DVD erscheint in der Edition tothenhayn und wird zuerst 2006 im Berliner Gehörlosenzentrum in der Friedrichstraße vorgestellt.

Als Professor für experimentelle Plastik unterrichtet Wolfgang Müller 2001/2002 an der HfBK Hamburg und stellt dabei die Frage nach der Morphologie von Elfen und Zwergen. Im gleichen Jahr publiziert er in der von ihm gegründeten Walther von Goethe Foundation, J. W. von Goethes Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (Gotha 1790) in isländischer Erstübersetzung durch den Isländischlektor an der Universität Wien, Jon B. Atlason.

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