Das heute auf dem Programm stehende musikalische Werk steht in der Tradition von „Komponisten und Musiker als Hörspielmacher“. Es basiert auf zwei Texten, die in Deutsch und Englisch vorgetragen werden und deren Inhalt wir deshalb kurz zusammenfassen:
1840 schrieb der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe eine Erzählung, in der ein anonymer Ich-Erzähler im Café sitzt, durch dessen Fensterfront dem vom Gaslicht beschienenen Stadttreiben auf den Straßen Londons zuschaut und vor sich hinträumt. - Ein auch in heutigen Zeiten durchaus bekanntes Motiv im Großstadtleben, das wohl allen Geschlechtern nicht fremd sein dürfte, -
Plötzlich erblickt dieser Erzähler einen geheimnisvollen Mann in der Menge. Er fühlt sich zu ihm hingezogen, verlässt das Café und folgt ihm bis morgens durch von Luxus wie Armut geprägten Straßen Londons. Er will hinter diese rätselhafte Ausstrahlung kommen, seine wahre Geschichte ergründen, die zu Phantasien verführt. Überdies ist nicht entscheidbar, ob diese Erscheinung eines Mannes in der Menge, diesen „Man in the Crowd“ ein Verbrechen antreibt oder gar ein Liebesschwur, denn unter seinem Gewand verbirgt er etwas, das ein Doch wie auch ein großer Diamant sein könnte.
17 Jahre später, 1857 schrieb der Vater aller modernen Poesie, Charles Baudelaires, das Gedicht „A une passante". Es ist eine Hymne an eine in der großstädtischen Menschenmenge „vorübergehende Frau", die, wenn sie den flüchtigen Blick erwiderte, die große, heiß ersehnte Liebe sein würde. Es bleibt in diesem Gedicht das Paradoxon: Nur weil sie weitergeht, flüchtig sich entzieht, kann sie als Möglichkeit einer großen Liebe erscheinen. Bliebe sie stehen, würde sie sich mit großer Wahrscheinlichkeit als prosaische Enttäuschung erweisen. - Auch dies eine Erfahrung, die wohl allen Geschlechtern nicht unbekannt sein dürfte. -
Die Erfahrung großstädtischer Anonymität, hier meisterlich in die Form des Gedichts und der Erzählung gebannt, bietet Wirklichkeits- und Möglichkeitsräume: für Sex, Gewalt, Verführung, Flucht, Verbrechen, Geheimnisse - nicht zuletzt auch für die Einsamen, die sich in der Menge spiegeln. Damals wie heute.
Der Komponist, Hörspielmacher und Schlagzeuger Rainer Römer, Mitglied des international renommierten Ensemble Modern, hat zahlreiche Soundinstallationen und Performances mit Carsten Nicolai aka Alva Noto realisiert. Für die vom Hörspiel des Hessischen Rundfunks produzierte Performance “Staubmarsch‹ die auch als CD bei intermedium records erschien, erhielt er 2002 (gemeinsam mit dem bildenden Künstler Ottmar Hörl und dem Komponisten Dietmar Wiesner) den Intermedium-Award. Zum Professor an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main wurde er 2004 berufen und für das SWR-Hörspiel realisierte er 2013 “Hochzeit aus Licht und Schatten. Nach Texten von Albert Camus”. Rainer Römer reiht sich ein in die Tradition von Hörspielmachern und -macherinnen, die, aus anderen Künsten kommend, das traditionelle, wortdominierte und auf Bedeutung setzende Hörspiel hinter sich lassen, das Akustische ganz im Zeichen der Kunst erforschen sowie gattungsübergreifend Text und Musik miteinander verknüpfen.
Für sein Stück hat Römer die Texte Edgar Allen Poes und Charles Baudelaires in eine zeitgenössische Musik- und Klangsprache übersetzt. Als Stilmittel nutzt er Popsongs, moderner Elektronik, O-Tonaufnahmen, die zu „musique concrète“ werden, und klassische Streichtriokompositionen. Nicht zuletzt hat er das Englische als Globalisierungssprache ausgewiesen, als die Sprache der Moderne, die regionale Unterschiede einebnet. Für die Pop-Interpretation von Baudelaires Gedicht nutzt er deshalb eine englische Übersetzung, Poes „The Man in the Crowd“ wird in Deutsch wie in der englischsprachigen Originalsprache vorgetragen.
Rainer Römer, geboren in Würzburg, lebt in Frankfurt/Main und ist als Schlagzeuger Mitglied des Ensemble Modern und Professor für Schlagzeug an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt/M. Daneben realisiert er Musikperformances und -installationen sowie musikalische Hörstücke.
Mit: Sylvester Groth, Graham Valentine, Antonia Rug (Gesang) u. a.
Komposition und Regie: Rainer Römer
Produktion: SWR 2016 in Kooperation mit der Popakademie Baden-Württemberg