Illustration Corona Virus

Statistik contra Realität

Wertlose Inzidenz? Dunkelziffer bei Corona wohl deutlich höher

Stand
Autor/in
Robert Wolf
Isabell Röder

Wie aussagekräftig sind die Sieben-Tage-Inzidenzen tatsächlich? Ärztinnen und Ärzte gehen von bis zu dreimal höheren Coronazahlen aus, als in der Statistik erfasst sind.

Welchen Wert hat der Inzidenzwert aktuell noch?

Wie sieht das wirkliche Infektionsgeschehen aus?

Welche Daten sind in Kombination wichtig?

Praxis in den Praxen: Krankschreibung ohne PCR-Test?

Welchen Wert hat der Inzidenzwert aktuell noch?

Die Bedeutung der Sieben-Tage-Inzidenz hat sich im Laufe der Pandemie verändert. Die Zahl wird nicht mehr bis auf die Dezimalstelle genau als Abbild des Infektionsgeschehens gesehen, sondern vielmehr als Trend. Infektiologe Hajo Grundmann von der Uniklinik Freiburg weist darauf hin, dass sich das Meldeverhalten im Laufe der Pandemie verändert habe. Man müsse von einer Untererfassung ausgehen, da nur die durch PCR-Tests bestätigten Fälle in der Inzidenz auftauchen, so Grundmann. Positive Schnelltests, die Erkrankte zuhause durchgeführt haben, fließen nicht in die Statistik ein. Für Grundmann hat die Inzidenz aber einen großen Wert für die Vorhersage und die Einschätzung der Dynamik der Pandemie. Kai Sonntag von der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg sieht in der Sieben-Tage-Inzidenz einen Trend, der für die Einschätzung der Pandemie relevant sei: "Die Statistiken, die wir haben, sind nur ein grober Annäherungswert. Das war aber schon immer so", so Sonntag.

Wie sieht das wirkliche Infektionsgeschehen aus?

Die wahren Fallzahlen können nur geschätzt werden. Hajo Grundmann schätzt, dass die wirklichen Infektionszahlen doppelt, maximal dreimal so hoch sind, wie es der Inzidenzwert ausdrückt. Dass es eine aktuelle Herbstwelle gibt, ist aber nicht von der Hand zu weisen. Die Hospitalisierungsrate und die Belegung von Intensivbetten seien belastbare Zahlen, die sich mit dem Trend der Inzidenz deckten und dadurch verlässliche Informationen liefern. Laut Grundmann rollt die aktuelle Welle seit etwa vier Wochen. Der Höhepunkt sei in drei Wochen zu erwarten. Die AOK als größte Krankenkasse in Baden-Württemberg mit über vier Millionen Versicherten, hat dem SWR auf Anfrage mitgeteilt, dass die Zahl der Fälle von Arbeitsunfähigkeit mit einer Covid-Diagnose in den letzten Wochen wieder stark angestiegen ist. Von rund 6.000 Fällen Mitte September ist diese Zahl laut AOK bis Anfang Oktober auf fast 10.000 angestiegen.

"Die Inzidenzahlen, die das RKI ausgibt, verlaufen parallel zu den Infektionszahlen, die die Krankenhäuser melden."

Welche Daten sind wichtig?

Um einen Überblick über das reale Infektionsgeschehen zu erhalten, ist eine Kombination verschiedener Parameter sinnvoll. Der Robert-Koch-Institut bietet seit einiger Zeit einen sogenannten "Pandemieradar" im Internet an. Hier werden neben den Inzidenzwerten auch Hospitalisierungsraten, Impfquoten, Sterbefälle, Intensivbettenbelegung und viele weitere Daten erfasst. Auch auf kommunaler Ebene hat sich der Umgang mit der Datenlage geändert. Der Landkreis Waldshut verzichtet seit August auf eine Aufschlüsselung der Fälle in einzelnen Gemeinden. In den wöchentlichen Meldungen werden nur noch die wichtigsten Parameter der Pandemielage veröffentlicht. Hierzu gehören laut Landkreis neben der Inzidenz, auch Werte die Todesfälle und Hospitalisierungen, die das RKI auch in seinem Pandemieradar erfasst. "Das Gesundheitsamt hat die Lage über Wochen beobachtet und analysiert und ist zum Ergebnis gekommen, dass die Zahl der tatsächlichen Corona-Fälle weit höher liegt als offiziell angegeben", heißt es auf der Internetseite des Landkreises.

Praxis in den Praxen: Krankschreibung ohne PCR-Test?

In vielen Arztpraxen sind PCR-Tests bei Coronasymptomen nicht die Regel. Patientinnen und Patienten, die zuhause ein positives Ergebnis bei einem Schnelltest erhalten haben, werden vermehrt allgemein wegen Atemwegserkrankungen krankgeschrieben und nicht wegen einer Coronainfektion im speziellen. Daniele Scherer, Hausärztin aus dem Landkreis Emmendingen, veranlasst einen PCR-Test nur noch, wenn Patienten vehement darauf bestehen, oder Arbeitgeber einen PCR-Testnachweis verlangen. Aus ihrer Sicht gehe es darum, dass eine Person krank sei und deshalb nicht arbeiten könne. "Aus meiner Sicht steht der Patientenschutz und der Angehörigen- oder Kollegenschutz im Vordergrund. Unabhängig davon, ob es jetzt Covid oder eine andere Erkältungserkrankung ist." Auch die Kassenärztliche Vereinigung stellt in Frage, ob ein PCR-Test immer sinnvoll sei. Die Tests seien ein Mehraufwand für die ohnehin überlasteten Praxen und es bestehe immer das Risiko, dass an Corona erkrankte Patienten, andere Menschen in der Praxis anstecken, so KVBW-Sprecher Kai Sonntag. Es stelle sich dann die Frage, ob ein solcher Test wirklich erforderlich sei.

Coronainfektion im Herbst 2022: Was ist zu beachten?

Infektiologe Hajo Grundmann von der Uniklinik Freiburg geht davon aus, dass Atemwegserkrankungen in der nächsten Zeit weiter zunehmen werden, also auch Influenza. Grundmann sieht hierin auch eine Gefahr, da eine Kombination aus Influenza und Covid ungünstig sei. Eine Grippeimpfung ist in seinen Augen eine Überlegung wert. Insgesamt sieht er die Coronalage trotz einer aktuellen Herbstwelle aber entspannter als noch zu Beginn der Pandemie. Zwar sei Covid eine schwere Atemwegserkrankung, die in Extremfällen weiterhin Krankenhausaufenthalte und intensivmedizinische Hilfe erfordern könne. Die Bevölkerung sei aber nicht mehr ungeschützt, sondern zu großen Teilen durch Impfung oder überstandene Erkrankungen immunisiert. Er plädiert für einen beruhigteren und gelasseneren Umgang mit der Krankheit. Auch Hausärztin Daniele Scherer wünscht sich, dass Covid zukünftig wie andere Infektionskrankheiten behandelt werden könnte. Vorausgesetzt, das Virus mutiere nicht wieder zu schlimmeren Varianten. Die Arbeitsbelastung in den Arztpraxen sei seit Beginn der Pandemie extrem, so Scherer gegenüber dem SWR.

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