Bund und Länder haben sich beim Flüchtlingsgipfel im Berliner Kanzleramt am Mittwoch nach stundenlangen Verhandlungen auf eine neue Lastenverteilung bei den Flüchtlingskosten geeinigt. Der Bund stellt den Ländern in diesem Jahr eine Milliarde Euro zusätzlich für die Versorgung von Flüchtlingen bereit. Das geht aus einem Beschluss hervor, den die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vereinbart haben. Mit dem Geld sollen die Länder unterstützt werden, ihre Kommunen zusätzlich zu entlasten und die Digitalisierung der Ausländerbehörden zu finanzieren.
Ministerpräsident Kretschmann unzufrieden mit Ergebnis
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zeigte sich von den Ergebnissen des Flüchtlingsgipfels enttäuscht. Für Bund, Länder und Kommunen müsse endlich verlässlich und dauerhaft geklärt sein, wer welche Lasten trage, sagte der er am Donnerstag. "Dies auszuverhandeln ist mit dem Bundeskanzler leider nicht gelungen. Dadurch bestehen weiter Unklarheiten und Unsicherheiten, was den Herausforderungen im Ganzen nicht gerecht wird und die Debatte am Köcheln hält." Eine am Bedarf orientierte, langfristige, dauerhafte und verlässliche Finanzierung sei weiterhin notwendig.
Auch den Kommunen reicht die Zusage von mehr Geld nicht. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, sagte im Morgenmagazin von ARD und ZDF, er sei nicht zufrieden - vor allem nicht mit der Vertagung der Entscheidung für eine Dauerlösung auf November. Denn eine zentrale Forderung der Kommunen war, dass sich die Finanzierung an der tatsächlichen Zahl der geflüchteten Menschen in jeder Kommune orientieren soll und der Bund dafür dauerhaft die Mittel zur Verfügung stellt. Die Einigung von Mittwoch sieht vor, diesen Punkt in Arbeitsgruppen weiter zu verhandeln und im November eine Lösung zu haben.
Steffen Jäger, Präsident des baden-württembergischen Gemeindetags, findet die Ergebnisse des Gipfels ebenfalls ernüchternd. "Das was verabredet wurde, ist uns in der Sache zu wenig", so Jäger. Auch die Geschwindigkeit, mit der Probleme angegangen würden, sei zu langsam.
Migrationsministerin Gentges "enttäuscht" über Verlauf des Gipfels
Neben Ministerpräsident Kretschmann äußerten sich auch andere Stimmen der Landesregierung zum Flüchtlingsgipfel. Baden-Württembergs Migrationsministerin, Marion Gentges (CDU), zeigte sich im Interview mit dem SWR "enttäuscht von den Ergebnissen" des Gipfels. Zu viel werde vertagt. "Und das in einer Problemlage, in der wir schnelle und nachhaltige Beschlüsse dringend brauchen würden", so die Ministerin. Die angepeilten weiteren Einigungen zwischen Bund und Ländern im November kämen laut Gentges viel zu spät.
Landrat: Geld allein macht nicht glücklich
Auch für Achim Brötel (CDU), Landrat im Neckar-Odenwald-Kreis, sind die wirklich drängenden Fragen nicht gelöst. Man müsse sich von dem Narrativ befreien, dass man mit Geld alles lösen kann, sagte er im SWR. "Selbst wenn es morgen Goldstücke regnen würde, hätten wir dadurch noch keine einzige zusätzliche Wohnung für Geflüchtete mehr. Wir hätten keinen einzigen Mitarbeitenden mehr, weder im Hauptamt noch im Ehrenamt, wir hätten keinen Sprachkurs, keinen Integrationskurs mehr. Wir hätten keinen Kitaplatz mehr, keinen Schulplatz mehr", so der Landrat.
Er fordert, den Zugang zu steuern, beispielsweise durch Asylverfahren direkt an den EU-Außengrenzen. Zudem müsse dafür gesorgt werden, dass nur noch Menschen mit konkreter Bleibeperspektive in die Kommunen verteilt würden. Zur Verringerung der illegalen Migration müssen seiner Meinung nach die Außengrenzen der EU besser geschützt werden - auch die Grenze hin zur Schweiz. Auch wenn klar sei, dass man helfen müsse und helfen werde, betont Brötel, "brauchen wir halt Herz und Verstand".
Landkreistag will automatisch mehr Geld bei steigenden Flüchtlingszahlen
Der Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg, Joachim Walter (CDU), kritisierte, dass es weiterhin keine verlässliche Perspektive für die Kommunen gebe. "In finanzieller Hinsicht bedarf es dringend eines auf Dauer angelegten atmenden Systems, bei dem die Refinanzierung der Geflüchtetenkosten automatisch und ohne ständig wiederkehrende Krisengipfel den Flüchtlingszahlen und Kostenentwicklungen folgt", sagte Walter, der auch Landrat des Kreises Tübingen ist.
Außerdem bemängelte er, dass es beim Gipfel keine Einigung zu einer europaweiten Anpassung der Sozialleistungen für Geflüchtete gab. "Dabei ist doch klar, dass sich bei unterschiedlichen Sozialstandards eine gleichmäßig-faire Verteilung der Geflüchteten in Europa letztlich nicht umsetzen lässt", so der CDU-Politiker.
Auch Walters Partei, die CDU in Baden-Württemberg, kritisierte den Ausgang des Gipfels. "Die Ergebnisse lassen sich mit einem Wort zusammenfassen: ernüchternd", so der Fraktionsvorsitzende im Landtag, Manuel Hagel. Die Ampel habe offenbar nicht die Kraft, dringend notwendige Lösungen zu finden. "Die Milliarde ist ein lauer Kompromiss, der kurzfristig Probleme mit Geld kaschiert, die Ursache aber, die ungesteuerte und illegale Zuwanderung, überhaupt nicht angeht", so Hagel.
Scholz lobt konstruktives Treffen
"Unser Land steht vor einer großen Herausforderung", hatte Bundeskanzler Scholz bei der Pressekonferenz nach dem Flüchtlingsgipfel erklärt. Das Treffen sei "konstruktiv und gut" gewesen, sagte er. "Ich finde, das ist ein guter Tag des deutschen Föderalismus, den wir heute haben." Es sei gut für die Demokratie, gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
Im November soll dann bei einer regulären Ministerpräsidentenkonferenz beraten werden, wie das System längerfristig weiterentwickelt werden kann, wie Scholz ergänzte. Eine Arbeitsgruppe soll bis dahin weitere Vorschläge unterbreiten. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) betonte, dass das Treffen besser als erwartet verlaufen sei. Bei der Frage der finanziellen Lastenverteilung sagte der SPD-Politiker, er verstehe, dass der Bund wegen des Haushalts restriktiv sein müsse. Die Länder sähen aber auch die Belastungen der Kommunen. Die Positionen zwischen Bund und Ländern seien daher noch nicht identisch.
78 Prozent mehr Erstanträge auf Asyl als im Vorjahreszeitraum
In den ersten vier Monaten des Jahres wurden in Deutschland laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 101.981 Erstanträge auf Asyl gestellt. Das waren 78 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Viele Kommunen sehen sich bei der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge an der Belastungsgrenze.