Schätzungsweise mehr als fünf Millionen Muslime leben in Deutschland. Aleviten, Sunniten, Schiiten, Ahmadiyya. Die meisten sind konservativ eingestellt. Weniger bekannt sind die Vertreter des sogenannten liberalen Islam. Er zeigt eine kleine, aber spannende Entwicklung auf. In der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart gab es dazu in Zusammenarbeit mit der Stiftung Weltethos Tübingen in dieser Woche eine Tagung.
Liberal-Islamischer Bund (LIB)
Im Jahr 2010 wurde der "Liberal-Islamische Bund e.V." (LIB) gegründet. Er hat sieben Gemeinden in Deutschland. Fast genauso lange ist Annika Mehmeti aus der Nähe von Koblenz dabei. "Ich möchte in der Gesellschaft etwas verändern. Ich möchte Angebote machen an diejenigen, die den Islam neu denken möchten", sagt sie. Das neue Denken zeigt sich zum Beispiel in der Rolle der Frau. Eine Muslimin als Vorbeterin für die Gemeinde ist genauso wenig ein Tabu, wie das gemeinsame Gebet von Frauen und Männern. Inspiriert ist die Bewegung, so die Vertreter, vom liberalen Judentum, das bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht.
Der Umgang mit dem Begriff “liberal“
Mit seiner Größe von rund 300 Mitgliedern ist der Liberal- Islamische Bund noch weit von der Größe der türkisch geprägten, sehr konservativen Verbände Ditib oder Milli Görüs entfernt. Doch warum ist der Bund seit seiner Gründung so klein geblieben? Den Ausdruck "liberal" lehnten sehr viele Muslime ab. Er klinge sehr nach Parteipolitik, sagt Friedmann Eißler, Islambeauftragter der württembergischen Landeskirche. Zudem stehe der Ausdruck in erster Linie für Werte der westlichen Gesellschaften, die als stark religionskritisch oder gar feindlich wahrgenommen würden. "Und da finden sich viele religiöse Menschen nicht wieder", erklärt Eißler. Muslime, die man als liberal bezeichnen könnte, sind in aller Regel gut integriert, sagt Eißler. Sie beteiligten sich am gesellschaftlichen Leben und hätten nicht das Bedürfnis, sich dann noch aus religiösen Gründen gesondert zu organisieren.
Trend zum konservativen oder liberalen Islam?
Es gebe hoffnungsvolle Stimmen, die sagten, ein liberaleres Weltbild werde sich wie bei den christlichen Kirchen mehr und mehr durchsetzen, erklärt Eißler. "Aber so wie ich die Lage heute sehe, kann ich das überhaupt nicht feststellen. Die Dominanz der konservativen Verbände ist ungebrochen und wird ausgebaut".
Liberale greifen wichtige Fragen auf
Trotz der geringen Größe traut Islamwissenschaftler Hussein Hamdan von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, den liberalen Organisationen einen Einfluss auf das muslimische Leben in Deutschland zu. Denn der liberale Islam würde die weitaus großen, etablierten islamischen Verbände vor große politische, gesellschaftliche Herausforderungen stellen. "Die großen Verbände müssen Antworten auf die Fragen liefern, die der liberale Islam aufwirft", sagt Hamdan. Zum Beispiel wenn eine Muslimin mit einem Nicht-Muslim religiös getraut werden möchte. Oder wenn homosexuelle Musliminnen und Muslime eine Gemeinde suchen.