100 Tage Krieg

So ist die Stimmung in Russland

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Nach 100 Tagen Krieg in der Ukraine blicken wir nach Russland. Sabine Stöhr war jahrelang ARD-Russlandkorrespondentin in Moskau und berichtet darüber, wie die Stimmung im Land ist, welche Rolle die Staatsmedien spielen und wie der Krieg in Russland wahrgenommen wird.

SWR1: Frau Stöhr, Sie leben inzwischen in Mainz, haben aber noch Verbindungen nach Moskau und sind auch noch in einem Online-Yoga-Kurs in Moskau. Hat der Krieg die Atmosphäre verändert?

Sabine Stöhr: Ja, das hat er. Man redet nur noch um so unverfängliche Dinge wie das Wetter oder die gestiegene Preise. Eine von uns ist mit einem der letzten Flieger mit ihrer Familie nach Dubai geflogen, weil sie Angst hatte, dass die Grenzen geschlossen werden. Es wird immer stiller.

SWR1: Was meinen Sie, wie viel wissen die Menschen in Russland über den Krieg in der Ukraine?

Sabine Stöhr: Es wird eben immer stiller, weil letztendlich keine Sprache mehr da ist. Das Wort Krieg darf ja seit dem aktuellen, erweiterten Mediengesetz nicht mehr verwendet werden. Menschen werden dafür bestraft und inhaftiert. Die staatlich kontrollierten Medien sprechen von Spezial-Operationen, ohne näher zu erklären, was das bedeutet. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat erst kürzlich verlauten lassen, westlichen Medien fehle es an objektiven Informationen über Russlands "Spezial-Operationen". Damit macht er die westlichen Nachrichten zu Fake News, und angeblich kennt nur das russische Staatsfernsehen die Wahrheit.

Familien entzweien sich über den Krieg

Es gibt aber viele Menschen in Russland, die Bekannte oder sogar Verwandte in der Ukraine haben. Da wird natürlich darüber geredet, dass es Verstümmelte gibt, Verhungerte und Tote. Trotzdem glauben viele Russen ihren ukrainischen Bekannten und Verwandten nicht und Familien entzweien sich über den Krieg.

SWR1: Glauben die Menschen tatsächlich, was das russische Staatsfernsehen erzählt?

Sabine Stöhr: Es gibt da einen Unterschied zwischen Jung und Alt und auch zwischen Stadt und Land. Es gibt in diesem großen Land sehr viel Land und sehr wenige große Städte. Dort leben die Jungen, die oft schon gereist sind. Das sind dann eher diejenigen, die protestieren, neben den Wissenschaftlern und den Kulturschaffenden. Und wenn die festgesetzt werden, sind sie in den Augen der Älteren oft selbst schuld, weil sie ja für Unruhe sorgen.

SWR1: Wladimir Putin ist von vielen Experten offenbar falsch eingeschätzt worden, denn die wenigsten haben ihm diesen Angriffskrieg zugetraut. Stehen die Russen wirklich hinter Putin, so wie es den Anschein hatte, zum Beispiel am großen Parade-Tag am 9. Mai?

Es ist ein Leben ohne Sprache und Ausdrucksmöglichkeit geworden

Sabine Stöhr: Also zu solchen Großveranstaltungen werden auch immer Busse voller Menschen gekarrt - Staatsbedienstete, Studierende. Und die müssen dann jubeln, ob sie wollen oder nicht. Die Meinungsforschungsinstitute fragen derzeit aber eher ab, wer hinter den "Spezial-Operationen" steht. Das sind nach diesen Umfragen mindestens zwei Drittel. Das sind dann aber auch diejenigen, die lieber vorsichtshalber mal ja sagen, wenn da jemand anruft und fragt: Wie sehen Sie das denn? Und so wird dann eine öffentliche Meinung geschaffen in einer Gesellschaft, in der es schon lange keinen Diskurs mehr gibt. Und für diejenigen, die das nicht teilen - vor allem Junge, Intellektuelle, aber auch ärmere Menschen - ist das ein Leben ohne Sprache und Ausdrucksmöglichkeit geworden.

SWR1: Wladimir Putin hat jede politische Opposition aus dem Weg geräumt. Der fast ums Leben gekommene Alexej Nawalny sitzt im Arbeitslager. Was ist Wladimir Putin für ein Mensch, was treibt ihn an?

Sabine Stöhr: Er ist sicherlich jemand, der schwer vertraut. Beobachter erzählen immer wieder, dass er weder Smartphone noch Internet nutzt. Er lebt also sehr zurückgezogen. Besonders seit dem Ausbruch der Pandemie. Damals hat man ihn oft in einem Bunker gesehen, in dem man nur durch eine Schleuse mit viel Desinfektionsmittel kommt, er wirkte sehr alleine. Was ihn antreibt, das erklärt er uns schon seit Jahren - wir haben es bisher nur für unmöglich gehalten. Er möchte, dass Russland wieder zur Großmacht wird innerhalb der Grenzen der ehemaligen Sowjetunion.

SWR1: Firmen und Modeketten haben dichtgemacht in den Städten. Wie reagieren die Moskauer darauf? Spüren sie die Sanktionen?

Sabine Stöhr: Durch diese Sanktionen, die bisher in Kraft gesetzt worden sind, ist der Alltag in der sehr privilegierten Hauptstadt Moskau kaum beeinträchtigt. Moskau hat nicht viel mit dem Rest des Landes zu tun. Bekannte berichten mir, es sei irre, wie die Stadt wirkt. Als hätte sich in der Welt überhaupt gar nichts verändert. Abgesehen davon, dass in den Supermärkten die Preise deutlich gestiegen und Lieferketten unterbrochen sind. Gravierender ist, dass Ersatzteile fehlen. Um ein Flugzeug jetzt am Laufen zu halten, muss man ein anderes ausschlachten. Wirtschaftsexperten sprechen davon, dass die Lieferengpässe im Sommer zunehmen werden, die Wirtschaft sich im September deutlich verschlechtern könnte. Entscheidend wird am Schluss wohl auch sein, wie sich der Rubel entwickelt.

SWR1: Niemand kennt die Zahl der getöteten Soldaten, weder in der Ukraine, noch in Russland. Es müssen aber viele sein. Ist die Trauer öffentlich ein Thema in Russland?

Sabine Stöhr: Nein. Genauso wenig wie der Krieg ein Thema ist. Genauso wenig, wie irgendeine Diskussion ein Thema ist. Da gibt es Stille. Vom russischen Verteidigungsministerium gibt es ja kaum offizielle Zahlen. Es gibt nur Zahlen aus der Ukraine und vom britischen Verteidigungsministerium. Da ist von bisher etwa 30.000 getöteten Soldaten die Rede. Die kommen überwiegend aus den ärmeren Regionen Russlands, aus dem Kaukasus und dem Osten. Die Familien erfahren dann nur zögerlich etwas über ihre Söhne, Brüder und Väter. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski und auch das britische Verteidigungsministerium erwähnen mobile Krematorien, in denen der Kreml seine verstorbenen Soldaten einfach verbrennen und verschwinden lassen will. Die Verwandten in Russland bekommen dann, wenn überhaupt, eine Meldung darüber, dass ihre Männer zum Beispiel bei einer Katastrophe ums Leben gekommen sind. Krieg gibt es ja offiziell nicht, und mit der Trauer und der Verzweiflung bleibt jeder alleine.

Das Gespräch führte Steffi Stronczyk.

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