Weniger Hierarchie, kein Zölibat und eine liberalere Sexualmoral als die katholische Kirche. Trotzdem hat die evangelische Kirche samt ihrer Diakonie ein ähnlich großes Problem mit sexualisierter Gewalt wie die katholische. Der Forschungsverbund, den die Evangelische Kirche in Deutschland mit einer umfassenden Studie beauftragt hat, hat heute erschütternde Ergebnisse präsentiert. Nela Fichtner stellt die wichtigsten Ergebnisse und Reaktionen vor. Zwischen 1946 und 2020 gab es weitaus mehr Fälle sexualisierter Gewalt in evangelischen Einrichtungen als bislang angenommen: So fanden die Forschenden deutschlandweit 2225 Betroffene und fast 1260 Beschuldigte, von denen einige mehrfach beschuldigt wurden. Die meisten waren männlich, zwei Drittel verheiratet, ein Fünftel waren Pfarrpersonen. Es handelt sich um die Spitze der Spitze des Eisberges. Der Grund: einige Landeskirchen hätten den Datenzugang verschleppt oder nicht alle vereinbarten Daten zugeliefert, so Prof. Harald Dreßing, der vor Jahren bereits die katholische Missbrauchsstudie erarbeitet hat.
Rechne man die Zahlen spekulativ hoch, komme man auf ähnliche Fallzahlen wie in der katholischen Kirche. Dennoch seien beide Studien nicht vergleichbar. Betrachte man -bei den verschiedenen Tätergruppen nur die Pfarrer, so Martin Wazlawik, würden typisch evangelische Strukturen deutlich, die sexualisierte Gewalt begünstigt haben.
Ein anderes, typisch evangelisches Problem sei das Selbstverständnis, föderal und progressiv zu sein. Was auch weniger Kontrolle und mehr Tatmöglichkeiten im Verborgenen bedeutet.Der württembergische Landesbischof Ernst-Wilhelm Gohl sieht da Handlungsbedarf. Neben den Landeskirchen haben die Forschenden auch die Diakonischen Werke untersucht. Annette Noller, Vorstandsvorsitzende des Diakonischen Werks Württemberg, ist von der Mitarbeit der Betroffenen beeindruckt. Fazit: Bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche gibt es noch jede Menge zu tun.