Ein Landschaftspanorama mit Flusslauf. Schulkinder streifen durchs Bild. Anfang eines Films. Aufgenommen in schwarz-weiß. Eine kleine Stadt im Westen Japans. Ein Eisenbahnzug quert den Bildausschnitt. Ein Ehepaar bereitet sich auf eine Reise vor. Der Mann vertieft im Lesen des Fahrplans. Seine Frau beschäftigt mit Packen. Kurze erwartungsfrohe Wortwechsel. Sie wollen ihre älteren Kinder und deren Familien im fernen Tokyo besuchen. Die Kamera steht ruhig. Registriert ihre Vorbereitungen. Mit Bedacht, ohne Hektik. Die Bilder verharren nahezu im Stillstand. Ein dokumentarisch gehaltenes Tableau. Einkehr, Eintracht und Frieden. Und doch vermittelt die Szene eine innere Anspannung. Die jüngste Tochter bricht in die Schule auf, verabschiedet sich von den Eltern. Schreitet durch eine enge Gasse. Über die Sequenz legt sich – wie aus einer anderen Welt eingesprochen – die Stimme von Wim Wenders. „Wenn es in diesem Jahrhundert noch Heiligtümer geben würde, wenn es noch so etwas gäbe wie das Heiligtum des Kinos, müsste es für mich das Werk des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu sein.“ Der Filmausschnitt stammt aus dessen Spielfilm Tokyo Monogatari. So still, bescheiden und aufmerksam beginnt der Dokumentarfilm Tokyo-Ga von Wenders. Das Filmzitat endet, fast abrupt schneidet Wenders ein langes Schwarzbild ein. Schließlich ein Schnitt in ein Flugzeug. Der Schnitt für einen Dokumentarfilm, so Wenders einmal, sei „viel komplexer als bei einem Spielfilm“. Es gehe darum, die „Logik der Bilder“ zu finden, „ihnen eine Form“ zu geben, die „eine zusammenhängende Einheit ergibt“. Krasser Wechsel von schwarz-weiß zu Farbe. Und aus dem Off ist Wenders‘ Klage zu hören über die Fremdheit der eigenen Bilder, die er in Tokyo sieht und macht, vorführt und gedanklich verwirft. Etwa der verstörend intensive Blick in eine der grell bemalten Pachinko-Spielhallen: blinkende und quietschende Automaten, durch die tackernde Metallkugeln kollern, Menschen davor, hingegeben, eher ergeben, wie abgestorben, verloren im Maschinenraum eines vermeintlichen Glücks, Lebende zwar, doch nicht lebendig. Tokyo-Ga ist ein Reisefilm. Vordergründig. Ein Dokumentarfilm. Ein filmisches Tagebuch. Auch das. Vor allem aber ein dokumentarisch angelegter Essay, in dem der Autor Wim Wenders den Spuren des Meisters Ozu folgend über seine eigene filmische Ästhetik nachdenkt. Behutsam reflektiert über die Kunst des Bildermachens im 20. Jahrhundert.
Retrospektive Wim Wenders Tokyo-Ga
Behutsam nähert sich Wenders dem Werk des japanischen Meisterregisseurs Yasujiro Ozu und führt uns vor Augen, dass es Menschlichkeit ist, wonach wir uns sehnen, wenn wir ins Kino gehen.
Ein Film sei ein Spiegel, heißt es zuweilen. Was bedeutet ein solcher Satz für das Sehen eines Films? Springt man beim Sehen in diesen Filmspiegel? Und befindet sich unmittelbar auf der anderen Seite der Spiegelfläche, gar mitten unter Menschen und Dingen, die einem bekannt vorkommen. Sie sind es jedoch nur dem Schein nach, in Wirklichkeit haben wir sie noch nie gesehen. Wenn es Spielfilme sind, hieße die Voraussetzung. Doch was, wenn es sich um Dokumentarfilme handelt? Und die Dinge unserer Welt sind jetzt ihrerseits außerhalb unserer Welt – und werden zu Spiegelungen? Und endet der Film, dann überspringen wir, das Publikum, neuerlich den Spiegelrand und kehren in unsere einfache Welt zurück, finden Städte, Häuser und Menschen, die uns – vielleicht – nichts zu sagen haben oder doch viel, und der Spiegel, der sich wieder hinter uns geschlossen hat, strahlt mit blanker Fläche friedlich zurück. Da möchte man dann doch glauben und schwören, Kunst sei Spiegelung. Und der Dokumentarfilm ist in diese Formel miteingeschlossen.
„Wenn man ins Kino geht, um einen Film zu sehen, der vorgibt, etwas zu dokumentieren, wird man meistens betrogen. Ob es sich um Grand-Prix-Rennen, sexuelle Perversionen, Fußballweltmeisterschaften oder um Pop-Musik handelt, man bekommt nicht das zu sehen, was man sehen will, stattdessen eine Haltung dazu, eine Einstellung davon, eine Meinung darüber. Was man sehen wollte, muß man sich mühsam mit den Augen ergattern, wenn es nicht überhaupt völlig zerstört oder zugeschüttet worden ist.“ Diese Aussage hat Wenders einmal notiert in einer Kritik zu D. A. Pennebakers Konzertfilmfilm Monterey Pop, an den Kameras die Dokumentaristen Richard Leacock und Albert Maysles.
Retrospektive Wim Wenders Buena Vista Social Club
Große Augenblicke reihen sich in diesem wundervollen Film aneinander und man fragt sich: Was macht diese Klänge derartig magisch?
Was heißt das für Wenders‘ Dokumentarfilme? Und seine Methode des Erzählens? Wobei man mit der Frage nach der Methode wahrscheinlich geradewegs sich ins Abseits bewegt. Also zugespitzter. „Ich finde“, so Wenders an anderer Stelle, „daß der Film nicht dafür erfunden worden ist, von der Welt abzulenken, sondern im Gegenteil auf die Welt hinzuweisen.“ Und noch einmal ein Satz, der auf Ozu verweist, in heiligem Ernst gesprochen: „Das Allerschönste in Filmen ist, wenn in einer ganz einfachen, ruhigen Darstellung von etwas Alltäglichem plötzlich etwas ganz Allgemeingültiges sichtbar wird. Wie in den Filmen von Yasujiro Ozu.“ Geht es zu weit in diesem Gedanken eine ideelle Verbindung zwischen dem fiktionalen und dokumentarischem Erzählen zu vermuten? Sozusagen eine Bildnähe. Wie sie sich auch in den Spielfilmen von Wenders selbst finden ließe. Was ist die Fiktion, wenn nicht eine Interpretation von Wirklichkeit?
In Quand je m’éveille / Reverse Angle – New York City, March 1982, einem „Brief aus New York“, Auftragsarbeit des französischen Senders Antenne 2 für die TV-Reihe „Cinéma-Cinémas“, steht am Filmbeginn die Kamera auf dem Laufband eines Flughafens, gleitet langsam voran. Die Laufbandbahn endet in gleißend rotem Neonlicht. Im Off wiederum ein Kommentar von Wenders, der das dokumentarische Bild rhetorisch weitet: wieder einmal sei er an einem Flugplatz angekommen, wieder eine andere Stadt, das Reisen sei er nun leid, an ein Buch müsse er denken und er begegne einem „Gefühl der Verlorenheit“. So könne ein Film anfangen. Oder so wie die nicht gemalten Geschichten in den Bildern von Edward Hopper. Dessen Bilder seien, das hat Wenders immer wieder betont, auch Geschichtsanfänge. „Gas“, so der lapidare Titel eines dieser Gemälde: Eine leere Chaussee im Abenddämmer, Niemandsland Amerika, drei Zapfsäulen am Straßenrand, verdeckt dahinter der Tankwart. Weiter gedacht und mit einer Geschichte gefüllt: An der Tankstelle fährt ein Auto vor, am Steuer ein Mann mit einer Schusswunde. Kino, so Wenders, gibt die Möglichkeit, „Dinge zu zeigen, wie sie sind“. Bilder, auch das bekennt er immer wieder, bedeuten ihm mehr als Geschichten. Was nicht dazu verleiten sollte, er sei an der bloßen Aufzeichnung des Sichtbaren interessiert. Vielmehr geht es Wenders um das Berühren von Wirklichkeit. Sein „Brief aus New York“ zeigt sein New York, seinen Blick auf diese Stadt der Städte; nicht der „böse Blick“ der Touristen, entleert von Gefühlen, verbiestert im Postkartenkitsch verkleistert seine Neugier. Wenders‘ Blick sucht das Offene in dem, was verschlossen und verschlüsselt daherkommt. Alles sei in Gefahr zu verschwinden. Im Sehen, so Wenders, im Sehen auf die Welt, könne man eine Einstellung finden zu einer Person, zur Welt. Wahrnehmen. Das sei ein schönes Wort für Sehen, darin stecke „wahr“, denn im Sehen sei für ihn Wahrheit möglich. Mehr als im Denken. Dabei könne man sich verirren. Das fordere Abstand. Beim Sehen hingegen tauche man, tauche er in die Welt ein.
Retrospektive Wim Wenders Pina
Pina Bausch war Tänzerin und Choreografin. Ein Film über ihre Kraft und Verletzlichkeit, über Mut und stille Verzweiflung, über Aufbruch. Wenders nennt sie Pina. Nahezu liebevoll und mit verstehendem Staunen.
Kann man also das Dokumentarische vom Fiktiven trennen? Die Filme von Wim Wenders insgesamt addieren Bilder aus der Wirklichkeit. Sie mögen dramaturgisch und dramatisch übersetzt sein, sie mögen als unverfälscht erscheinen, sind aber doch filmische Kompositionen des Autors. Das gilt für seine Filme über Musik und Musiker: „Buena Vista Social Club“ und „Viel passiert – Der BAP Film“, „The Soul of a Man“, auch für den Episode aus „Red Hot & Blue“, allesamt Hommagen an die Künstler. Gilt für Porträts über die Regisseure Nicholas Ray und Yasujiro Ozu, den Modemacher Yoshij Yamamoto, die Choreographin Pina Bausch, den Fotografen Sebastião Salgado, auch über Papst Franziskus.
Voneinander zu trennen sind Wenders‘ Spiel- und Dokumentarfilme nicht. Vielleicht sind sie keine Geschwister, das gäbe Streit, doch bedingen sie einander. Kann man sie als nahe Fremde bezeichnen? Jedenfalls sind seine Dokumentarfilme keine Gelegenheitsarbeiten, nicht Lücken füllend zwischen zwei, drei, vier Spielfilmvorhaben. So unterschiedlich sie sind, so offen ihre Formen, ihre Ästhetik, ja, ihre Poetik, so geschlossen fügen sie sich ein in ein narratives Denken und Sehen und Sichtbarmachen von unentdeckten Wurzeln und Verbindungen, getragen von ernsthafter Leidenschaftlichkeit. Experimente könnte man sie nennen. Und Brüderlichkeit und Sympathie für das, was da filmend aufgezeichnet wird, sind die Schlüsselworte dieser Experimente. Subjektivität in bestem Sinne als Zumutung, das Bekenntnis: Ich, Wim Wenders, sehe etwas und zeige es, sind Kernmerkmale dieser filmischen Vorgehensweise. Keine objektive Wissenschaftlichkeit, kein direct cinema oder cinéma vérité. Wenders neigt in seinen dokumentarischen Arbeiten zu einer starken Betonung des Emotionellen.
Wollte man einen gedanklichen Abstecher riskieren, dann könnte man auf Kant und Schiller verweisen, die Musik (und die Vokabel sei nicht beschränkt auf Töne, sondern gelte hier auch für die Musik der Bilder) als sinnlich verworfen haben, bevor andere Künstler im 19. Jahrhundert in der Musik (siehe die Klammer oben, die ebenfalls an dieser Stelle gilt) äußerste Vergeistigung erblickten. Eine Gefahr, die Heinrich Heine, Düsseldorfer wie Wenders, erkannte, denn im gleichsam spiritualistischen Rausch würde „die deutsche Jugend, versenkt in metaphysischen Abstraktionen“, die „Zeitinteressen“ vergessen und „untauglich“ werden „für das praktische Leben“. Es sei erinnert daran, dass in vielen Spielfilmen von Wim Wenders eben auch deutsche Zeitgeschichte, jene des nationalsozialistischen Deutschlands, der Schuld von Vätern und Müttern, Großvätern und Großmüttern immer wieder verhandelt wird. Der Regisseur Wim Wenders, Jahrgang 1945, ist ein Kind der „Stunde Null“, die bekanntlich eine solche nicht war. Dass er eben nicht, wie manchmal – seinen moralischen und humanistischen Impetus verkennend – über ihn gesagt, geschrieben und behauptet wird, ein unpolitischer Regisseur und Mensch ist, ist seinen Filmen mit stiller Wahrhaftigkeit eingeschrieben: die Konfrontation von Wilhelm mit Laertes in Falsche Bewegung, die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn in Im Lauf der Zeit und der suchende Seher Homer, der, aus Deutschland vertrieben, zurückgekehrt, über die verwaiste Wüste des Potsdamer Platzes irrt. Das sind fiktionale, doch dokumentarisch grundierte Szenen von großer politischer Dringlichkeit. Mit geradezu heftiger Beharrlichkeit verfolgt Wenders – so oder so – eine am Ethischen ausgerichtete Ästhetik, ein Versuch, die doppelte Fragestellung nach der Überzeitlichkeit und der Zeitgerechtigkeit des filmischen Kunstwerks für sich und mit seinem Publikum zu klären. Das ‚dokumentiert‘ gleichsam seine Befähigung zur Vermittlung versinkender oder schon fast versunkener Kulturwerte. Dies macht seine dokumentarischen Filme (eingeschlossen die Spielfilme wegen ihres zuweilen kaschierten dokumentarischen Gehalts) zu einer hohen, ganz unwissenschaftlichen und doch blendenden aufklärerischen Unterhaltung.
Retrospektive Wim Wenders Wim Wenders - Desperado
Wie erzählt man von einem Regisseur, der ständig unterwegs ist – auf der Suche nach neuen Bildern, nach neuen Geschichten? Friedler und Frege lassen Weggefährten zu Wort kommen – Francis Ford Coppola und Werner Herzog, Erika Pluhar und Andie MacDowell… ein Dokumentarfilm – wie ein Abenteuer in der weiten Welt der Filmgeschichte.
Für sein filmisch-dokumentarisches Œuvre, dessen ästhetisches, mithin beseeltes, ganz eigenes Bekenntnis, nicht aufdringlich, nicht belehrend, lebenshungrige sowie freud- auch leidvolle Weltbilder umfassend, erhält Wim Wenders 2023 den Ehrenpreis des Deutschen Dokumentarfilms. Denn Wenders nimmt den Stoff seiner dokumentarischen Filme aus unserer Welt, öffnet die Augen für ein Universum, das eigentlich bereits vor uns liegt. Und wir doch nicht wahrgenommen haben. So weist sich die Schönheit seiner Dokumentarfilme als nichts anderes aus als ein verschleierter Widerspruch. In doppeltem Sinne. Den kann man annehmen – oder verwerfen.
Eric Friedler
SWR Hauptabteilungsleiter Doku