Was hat Sie gereizt, bei der diesjährigen Jury für den Deutschen Dokumentarfilmpreis mitzumachen und als Präsidentin vorzustehen?
Bei Einladungen in eine Jury – und dann auch noch als Präsidentin – ist es immer so wie bei einer Einladung zu einem Festessen mit interessanten, aber fremden Leuten. Die erste Reaktion: »Muss das denn sein, ausgerechnet jetzt, ich habe gerade so viel um die Ohren, wer weiß, was mich da erwartet?« Und hat das Ganze erst einmal angefangen, fragt man sich, wieso man auch nur einen Augenblick gezögert hat. Man führt spannende Gespräche, macht Erfahrungen, die man sonst nie gemacht hätte. All das hätte man versäumt, wäre man nicht dabei gewesen.
Was die Teilnahme an einer Jury angeht, so sieht man Filme, für die man sich vermutlich sonst nie Zeit genommen hätte, oder auf die man nie aufmerksam geworden wäre. Und das macht für mich auch den Sinn der Jury-Arbeit aus: Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, des Publikums, auf Filme zu richten, die mich berührt haben, die mir Einsicht, Trost oder Erkenntnis gebracht haben. Und als Jurypräsident gelingt dies in erhöhtem Maße.
Im Lauf meiner Arbeit habe ich immer wieder auch Dokumentarfilme produziert z.B. Rodina heißt Heimat, Die geheime Inquisition und Novembertage, weil mir dieser konzentrierte Blick auf die Wirklichkeit immer sehr wichtig war. Wie wichtig, ist mir schmerzlich klar geworden beim letzten Film meines Mannes Wolf Gremm Ich liebe das Leben trotzdem. Die Dokumentation über seine Krebserkrankung, die er kurz vor seinem Tod beenden konnte, zeigt, was eine Dokumentation sein kann. Schonungslos und einfühlsam, tieftraurig und komisch, peinvoll und Trost spendend.
Was zeichnet für Sie einen guten Dokumentarfilm aus?
Für mich zeichnet einen guten Dokumentarfilm aus, dass ich mir plötzlich sage: Ach, so ist das, das habe ich mir nie klargemacht. Ach, so sieht die Welt da aus. So denken die Menschen da. So hat dieser Mensch gelebt. Das hat ihn angetrieben. So ist dieses Ereignis, diese Katastrophe wirklich abgelaufen. Jetzt weiß ich mehr als vorher. Allerdings ist das mit dem Wissen und der Wirklichkeit so eine Sache: Jeder Dokumentarfilm ist auch Fiktion, Dokumentarfilme und Spielfilme sind von Anfang an eng verwandt. Der gewissenhafteste Dokumentarfilmer kann mir immer nur seinen Ausschnitt der Wirklichkeit zeigen. Tut er dies sauber und ohne die Absicht zu täuschen, so kann daraus ein wunderbarer Dokumentarfilm werden. Gleichgültig, ob wir eine ganz gewöhnliche Schulklasse in einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt sehen oder Zeugnisse eines langen, ereignisreichen Lebens eines jüdischen Emigranten, der uns als Fernsehjournalist, Regisseur, Schriftsteller und vieles mehr begegnet.
Hat sich der Dokumentarfilm im Laufe der letzten Jahrzehnte verändert; hat sich der Anspruch an ihn verändert – und wenn ja wie?
Der Dokumentarfilm verändert sich ständig und die Ansprüche an ihn auch. Geblieben ist unser immer schon illusionärer Anspruch, der Dokumentarfilm vermittle Wirklichkeit und Wahrheit. Ja, wenn er ehrlich und aufrichtig und gewissenhaft ist, gelingt eine solche Annäherung an die Wahrheit. Deshalb lastet auf dem Dokumentarfilmer eine noch größere Verantwortung als auf dem Spielfilmregisseur und Drehbuchautor. Während wir den Spielfilm jederzeit als »Fiktion« wahrnehmen können, erwartet der Dokumentarfilm von uns, das zu glauben, was wir da sehen. Und so hat der Dokumentarfilm im Laufe der Filmgeschichte eine immer wichtigere Rolle eingenommen: Er kann beeinflussen, wie die Menschen die Welt sehen, wie sie private und politische Entscheidungen treffen. Das reicht von den Propagandafilmen des Nationalsozialismus bis in die unmittelbare Gegenwart.
Die Abgleichung von Dokumentaraufnahmen aus dem Ukraine-Krieg überzeugen uns davon, dass die Toten auf den Straßen keine ukrainische Inszenierung sind, sondern Opfer eines blutigen, sinnlosen Krieges. Mit Hilfe ganz ähnlicher Bilder will Putin seine ganz andere »Wahrheit« durchsetzen. Dieses Beispiel zeigt: Der Dokumentarfilm ist so wichtig wie nie zuvor. Doch zugleich ist er auch so gefährdet und gefährlich wie nie zuvor. Waren vor Jahrzehnten noch die technischen Mittel, die Bilder zu verfälschen, beschränkt und primitiv, so ist heute das Instrumentarium unendlich vielfältig und von höchster Perfektion. Und deshalb trägt der Dokumentarfilmer eine große Verantwortung.
Was war bzw. ist Ihnen persönlich bei einer Dokumentarfilmproduktion wichtig?
Wichtig ist, dass der Film den Zuschauer irgendwie bereichert. Im besten Fall ist es ein Zugewinn an Klarheit, vielleicht sogar Wahrheit. Ich habe einen Blick auf die Welt bekommen, der mir ohne diesen Film nicht zugänglich war, sei es auf das Liebesleben der Erdmännchen oder auf die Kämpfer gegen den Klimawandel.
Welcher Dokumentarfilm sollte unbedingt gemacht werden?
Jeder Dokumentarfilm, der aufrichtig und unvoreingenommen ist, kann uns einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnen, auf einen Mikrokosmos, auf die Menschheit oder auch nur auf einen einzigen Menschen – und uns so bereichern.
Können Dokumentarfilme etwas in der Gesellschaft bewirken?
Sie leisten, was gute und »wahre« Bilder schon immer geleistet haben: einen Gewinn an Erkenntnissen, manchmal als Erschrecken und Fassungslosigkeit, gerade in diesen Wochen. Authentische Bilder hinterlassen immer einen nachhaltigen Eindruck. Sie brennen in den Augen.
Wann ist ein Thema oder eine Person für Sie spannend genug für einen Dokumentarfilm?
Wenn man von einem Thema oder einer Person etwas Wichtiges erfährt, was man nicht wissen konnte oder gewusst hat. Wenn die Person oder die Sache nicht beispiellos, sondern beispielhaft sind. Wenn man etwas neu sehen lernt, was man aus dem Auge verloren, oder noch nie in seinem Leben gesehen hat.
Inspirieren Sie die Dokumentarfilme für Ihre eigene Arbeit und wenn ja, inwiefern?
Die meisten Spielfilme sind ja auf irgendeine Weise von der Wirklichkeit inspiriert, und, wie ich schon zuvor sagte, sind Dokumentarfilme und Spielfilme nicht so weit voneinander entfernt, zum Beispiel unsere Filme wie Der Verleger, Im Schatten der Macht, Gladbeck.
Der Spielfilm hat es da vielleicht leichter: Er macht sich seine Wirklichkeit und Wahrheit selbst, kann mit dem, was ihm die Realität oder die Phantasie vorgibt, spielen.
Der Dokumentarfilmer sollte sich seine Wahrheit nicht selbstmachen, sondern in dem finden, was er uns zeigt. Und da nähert sich der Spielfilm dann wieder dem Dokumentarfilm. Auch seine Wahrheit sollte kein Hirngespinst sein, sondern in unserer Lebensrealität verwurzelt sein.
Das Interview führte Dr. Irene Klünder (Festivalleiterin).