"Lesen, Schreiben, Alltagsmathematik - das reicht 2022 schon längst nicht mehr aus, um sich im Alltag zurechtzufinden", meint Katrin Stoffeln vom Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Die Ursache sieht sie in der Weiterentwicklung der Digitalisierung.
Analphabetismus ist ein Problem in Deutschland
"Mento pro" reiht sich ein in die "Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung", kurz: "Alpha-Dekade", die die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern für die Jahre 2016 bis 2026 ausgerufen hat. "Damals hat man beim Thema Grundbildung und Analphabetismus immer in andere Regionen der Welt geschaut und geglaubt, das sei vor allem ein Problem von Entwicklungs- und Schwellenländern", erklärt Schiefer. "Sozialverbände haben schon länger gesagt, dass es auch in Deutschland große Probleme mit funktionalem Analphabetismus gebe, aber es gab keine zuverlässigen Studien dazu."
Als 2010 die LEO-Studie der Universität Hamburg ergab, dass hochgerechnet etwa 7,5 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren nicht gut genug Lesen und Schreiben können, um sich problemlos im Alltag zurechtzufinden, seien die Politikerinnen und Politiker aus allen Wolken gefallen, meint Schiefer. (Die aktuellste LEO-Studie von 2018 spricht immer noch von 6,2 Millionen funktionellen Analphabeten in Deutschland.) Das Bundesministerium für Bildung und Forschung sah sich also gezwungen, zu handeln, und initiierte die Alpha-Dekade.
Grundbildung ist Firmensache
Das war Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften, die das Thema schon länger auf der Agenda hatten. Denn eines hat die LEO-Studie auch ergeben: Der aus prekären Verhältnissen nach Deutschland eingewanderte Tagelöhner, den viele beim Thema Analphabetismus im Kopf haben, ist ein Zerrbild. "Den 'typischen Analphabeten' gibt es nicht", weiß Katrin Stoffeln, die das "Mento-pro"-Programm bundesweit koordiniert. "Aber laut Statistik ist die Mehrheit männlich, mittleren Alters und relativ gut auf dem Arbeitsmarkt integriert." Die meisten Menschen haben in so einem Fall wirksame Strategien entwickelt, um im Alltag nicht aufzufallen.
Und genau da wollte der Deutsche Gewerkschaftsbund den Hebel ansetzen. Denn im Arbeitsalltag sind es häufig die Kolleginnen und Kollegen, die auf die Lese- oder Rechtschreibeschwäche eines Menschen aufmerksam werden. Darum setzte der DGB das Mento-Programm auf und erhielt dafür Geld aus dem 180-Millionen-Euro-Fördertopf der Alpha-Dekade. "In den letzten acht Jahren haben wir mehr als 1.000 Mentorinnen und Mentoren ausgebildet, die Menschen mit Grundbildungsbedarf auf Augenhöhe begleiten", erklärt Stoffeln.
Mit "Mento pro" geht der DGB noch einen Schritt weiter
"Denn das war eine der Erfahrungen aus dem Mento-Programm, dass es nicht reicht, Ansprechpartner zu haben und eine vertrauensvoller Atmosphäre zu schaffen, wenn dann so viel zu tun ist, dass doch keine Zeit für die entsprechenden Schulungen bleibt", sagt Renate Schiefer vom DGB-Bildungswerk in Bayern, die das "Mento pro"-Programm im Freistaat koordiniert. "Mento pro" ist die Weiterentwicklung des Mento-Programms bis zum Sommer 2024. Und Stoffeln ergänzt: "Wir mussten schon einige Projekte verschieben, weil viele Firmen mit Corona und gestiegenen Rohstoff-Preisen gerade andere Probleme haben."
Dennoch werden Betriebe gerade in Krisensituationen mit dem Grundbildungsbedarf ihrer Belegschaft konfrontiert: "Wir haben ständig neue Anweisungen bekommen, wie wir uns in der Corona-Situation zu verhalten haben", erinnert sich Sabine Biller. Sie leitet den Betriebsrat für den Servicebetrieb der Stadt Nürnberg, dazu gehören auch Landschaftsgärtner und Müllabfuhr. „Gerade in der Corona-Zeit waren die Hinweise, wie wir uns zu verhalten haben, rechtssicher verfasst. Aber diese Rechtsicherheit, hat dann dazu geführt, dass so manche Schriftstücke sehr vielseitig waren. Und ich muss ehrlich gestehen, ab Seite fünf wusste ich dann auch nicht mehr, was ich auf Seite eins gelesen habe.“
Der Alltag wird immer anspruchsvoller
Die Stadt Nürnberg ist einer von derzeit sieben Kooperationspartnern des DGB. Mit Hilfe des "Mento pro"-Programms hat Biller dafür gesorgt, dass die städtischen Führungskräfte derzeit für zielgruppengerechte Anweisungen und Informationen in einfacher Sprache sensibilisiert werden. "Wir haben erkannt, dass es bei Grundbildung nicht nur darum gehen kann, individuelle Defizite zu beseitigen, sondern dass sich der ganze Betrieb bewegen muss."
Gutes Personal ist wertvoller denn je
Betriebe diesbezüglich zu überzeugen sei heute einfacher als noch vor ein paar Jahren: "Als Firma fragt man sich ja: Wann schule ich mein Personal und wann ist es günstiger, eine Person mit zu vielen Defiziten austauschen", erklärt Stoffeln. "Und da spielen uns der demographische Wandel und der Fachkräftemangel derzeit eher in die Karten.
Das war nicht das einzige Corona-Learning im Zuge des "Mento pro"-Programms. "Wir haben auch gelernt, dass sich der Grundbildungsbegriff massiv erweitert hat", sagt Stoffeln. "Denn wer heute nicht weiß, wie ich eine Video-Konferenz starte oder von zuhause aus mit meinem Handy oder meinem Tablett daran teilnehme, ist bei zu vielen Dingen außen vor."
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gehört zu den Unterstützern der ARD-Mitmachaktion WIR GESUCHT – das Projekt. Unsere weiteren Unterstützer sind: AWO Bundesverband e.V., Caritas Deutschland, Diakonie Deutschland, nebenan.de Stiftung / Netzwerk nebenan.de und ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft.